Das Wolkenzimmer
sage ich die Fete ab, dann feiern wir zu zweit …«
»Feiern? Was denn feiern?« Veronikas Kehle brennt. Mattis dreht sich um. »Ja, ich weiß, das ist das falsche Wort. Aber hier geht’s doch nicht um Worte!«
»Um was dann?«
Jetzt hat sie den Bogen überspannt, das war eine Frage zu viel. Er bleibt ihr die Antwort schuldig und sein Gesicht verschließt sich von einem Augenblick auf den anderen. »Ich dachte... Aber gut, wenn das so ist, dann weiß ich nicht, warum ich mir die Fahrt angetan habe, dann weiß ich es wirklich nicht.« Er geht entschlossen an ihr vorbei zum Treppenturm.
Unfähig, sich zu rühren, beobachtet Veronika, wie er einen Fuß nach unten senkt, dann den anderen, wie seine Beine verschwinden, sein Rücken, wie ihn der Spindelturm schluckt. Er geht die Treppen hinab, er entfernt sich, das war’s.
Ihm nachstürzen, ihn zurückrufen …
Sie macht einen Schritt nach vorn und prallt eine Sekunde später vor der Erkenntnis zurück, dass das nichts ändert, denn in vierundzwanzig Stunden ist er schon über dem Atlantik, und er hat mit keinem Wort gesagt, dass sie mitkommen soll.
Veronika dreht sich um und geht schleppend zur Stiege nach oben. Als sie den Fuß auf die erste Stufe setzt, fällt ihr etwas ein. Er kann den Turm gar nicht verlassen, sie hat ja abgesperrt!
Ihr erstes Gefühl ist Erleichterung: Es ist nicht zu spät. Doch das wird von einer nachfolgenden Welle überrollt: Wozu, es ändert sich ja nichts. Die dritte Welle ist bereits der Zorn: Konnte Mattis nicht in drei Teufels Namen abreisen, ohne ihr noch einmal Hoffnung zu machen und sie dann wieder zu enttäuschen?
Mit dem Schub dieses letzten Gefühls läuft Veronika den Treppenturm hinab. Sie holt Mattis ein, bevor er an der Tür ist.
»Warte, ich schließe auf«, sagt sie und merkt, dass sie ihn anschauen kann, ohne in Ohnmacht zu fallen. Dass sie das schafft und übersteht - und sie ist soeben dabei -, macht sie vielleicht unverletzlich.
Mattis schaut finster an ihr vorbei, als er durch die geöffnete Tür hinaustritt.
»Gute Fahrt, Mattis«, sagt Veronika mit belegter Stimme.
Sie wartet darauf, dass er sich vielleicht doch noch einmal umdreht, weiß aber zugleich, dass er es nicht tun wird. Er hat keinen Blick und kein Abschiedswort für sie. Er geht einfach mit bösen, beleidigten Schritten weg.
»Warum bist du gekommen?«, ruft Veronika ihm in letzter Sekunde nach. Denn das ist tatsächlich die wichtigste Frage.
Mattis hat sie auf jeden Fall gehört. Er holt jetzt, ohne dass hier ein Auto zu sehen wäre, seine Schlüssel aus der Gesäßtasche, als hätte er nur noch einen Schritt zu seinem Wagen. Ich bin fertig mit dir, heißt die Bewegung, lass mich in Ruhe.
Er geht betont zielbewusst über den Platz. Nach einer Weile wird er langsamer und sieht sich um - er hat keine Orientierung. Dann ändert er die Richtung, merkt aber gleich, dass ihn das noch einmal zu ihr zurückführen würde, und beschließt mit einer raschen Drehung, lieber um die ganze Stadt zum Parkplatz zu laufen.
Veronika hat, als er verschwunden ist, ein gefrorenes Grinsen auf dem Gesicht, das sich hässlich und böse anfühlt. Sie wird vielleicht den ganzen Turm hinauf brauchen, bis sie es wegbekommt.
56
Wieder ziehen die Fledermäuse fort und es kommt der Winter. Jascha hat jetzt immer Hunger. Er sagt es nicht, aber der Einarmige merkt es auch so.
»Kruzitürken«, flucht er, »das weiß man doch schon vom Vieh, dass es bei der Kälte mehr Futter braucht. Und der Mensch ist doch was Besseres als das Vieh. Ich seh ja, dass du Hunger hast. Und ich weiß, wie kalt es im Dach ist. Aber darin geht’s dir wenigstens noch nicht so dreckig wie unseren Soldaten in Russland, das kannst du mir glauben. Oder den Matrosen auf hoher See. Und einmal muss der Wahnsinn ja aufhören …«
Falls er mit Wahnsinn den Krieg meint und der Krieg tatsächlich eines Tages vorbei ist, kommt es ganz darauf an, wer ihn gewonnen haben wird - vor allem für Jascha kommt es darauf an. Wenn doch die Engländer oder die Amerikaner kämen und ihn herausholen würden!
Aber sie wissen ja nicht einmal etwas von ihm. Jascha hat sich Hermanns letzte Adresse gut gemerkt, er könnte ihm in einem Brief schreiben, dass er noch hier ist. Such mich am höchsten Punkt der Stadt, könnte er schreiben. Dann wüsste Hermann, wohin er gehen müsste. Weil ihm dieser wunderbare Satz ständig im Kopf herumgeistert, übersteigt Jascha, sooft es der Einarmige erlaubt, die Holzwand, die
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