Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
Vom Netzwerk:
gekränkter Miene zieht er daraufhin die Hand zurück. Er schüttelt den Kopf und steigt die Wendeltreppe hinauf. Langsam, brütend. Und ohne sich zu beschweren oder sich umzudrehen.
    Erst im Hauptturm hält Mattis an. Sein Blick irrt über die vielen Stiegen hinweg nach oben. Er wägt ab - und entscheidet sich gegen den Turm.
    Das kann Veronika sehen, als stünde es in Buchstaben auf seiner Stirn geschrieben.
    »Nicky«, beginnt er. Er sieht zu Boden.
    Veronika wartet und kriegt auf einmal unsinniges Herzklopfen. Er soll sie bloß nicht wieder so ansehen wie vorhin!
    Als Mattis tatsächlich aufsieht und ihre Augen sucht und in ihnen forscht, rutscht ihr die Tüte aus der Hand, und sie muss sich bücken. Mattis bückt sich auch und hilft ihr, die Brötchen einzusammeln.
    Danach versucht er, ihr die Tüte sanft wegzunehmen.
    »Lass doch die dummen Brötchen«, murmelt er.
    Veronika krampft die Finger um den eingerollten Wulst der Tüte und weicht zurück.
    »Vroni...«, sagt Mattis bittend.
    Sie zieht die Luft ein und starrt ihn mit geweiteten Augen an.
    »Vroni«, wiederholt er sehr leise. Und jetzt sieht er genauso aus, wie er ausgesehen hat, wenn er sie in der Schule gesucht und gefunden und hinter einen Pfeiler gezogen hat. Das Funkeln in seinen Augen ist da, seine Lippen formen ihren Namen, den Namen, den nur er verwendet und der praktisch ein Geheimcode ist.
    Da öffnen sich ihre Finger.
    Mattis lacht glücklich auf. Er fängt sie ein, zaust ihr durch die Haare, umschlingt sie und wirbelt sie herum, bis sie schließlich alle beide gegen irgendetwas taumeln und er ihre Schultern an die Wand drückt und sie küsst. So gewalttätig küsst, dass es wehtut und dass sie Blut schmeckt. Sie packt ausgelassen seine Handgelenke und befreit ihre Schultern aus seinem Griff - ihre Kraft gegen seine. Dann umklammert sie seinen Nacken und küsst ihn zurück.
    Ihn zu schmecken, zu spüren und zu riechen - nachdem sie das schon verloren geglaubt hat -, fängt an, alle bösen Stunden aufzuwiegen, sogar die kalte Einsamkeit der Nacht, in der sie mit dem Universum allein war.
    »Nick«, keucht Mattis lachend. »Nicky, Vorsicht, du wirfst mich ja die Treppe runter …« Er befreit sich ohne Mühe aus ihrer Umarmung und zieht sie von der Gefahrenstelle weg. Aber nur, um nach einem Blick auf die Brötchen am Boden doch wieder zur Treppe zu gehen.
    »Komm, Nick, wir hauen ab! Ich hab einen Riesenhunger! Hey, was ist denn? Was hast du denn?«
    Veronika hat sich losgerissen. Sie spürt einen seltsam schalen Geschmack im Mund, ekelhaft wie Metall, und lehnt sich gegen die Wand. Von dort sieht sie ihn an.
    »Mattis? Haben dich meine Eltern geschickt?« Ihre Stimme ist flach, denn sie versucht zugleich, zu Atem zu kommen.
    »Warum?«, fragt er verständnislos.
    »Ich wüsste es gern.«
    »Sie haben einen ziemlichen Terror gemacht …«, sagt er und zuckt mit dem Mund, als wäre er bereit, sofort wieder zu lächeln und weiterzumachen. Doch dann sieht er ihren unnachgiebigen Blick.
    »Was ist auf einmal los? Was habe ich denn getan?«, sagt er gereizt. Von seinen schmalen Lippen ist plötzlich jede Spur eines Lächelns verschwunden.
    Veronika schluckt. Sind das die Lippen, die ihren Namen wie einen Kuss formen können?
    »Sag schon!« Mattis reißt seine Brille herunter und fängt wütend an, sie zu putzen.
    Sein Gesicht und seine Hände sind italienbraun. Sind das die Hände, von denen sie einmal geglaubt hat, sie wollten kein anderes Mädchen als sie berühren?
    »Ich weiß nicht, was du hast und was ich verbrochen habe, aber vielleicht sagst du mir jetzt wenigstens gütigst, ob du hierbleibst oder mitkommst.« Mattis zeigt in einer zornigen Bewegung zu den Stiegen und zum Schacht. »Weshalb du überhaupt hier bist, kannst du mir ja vermutlich nicht erklären?«
    Veronika verzieht bitter den Mund. Was soll sie sagen? Ich wollte mich deinetwegen umbringen?
    Er setzt die Brille wieder auf und rückt sie zurecht. »Ich fliege morgen und du vergräbst dich in diesem Nest. Auf einem Turm! Weißt du eigentlich, wie lange wir uns nicht mehr sehen?«
    Der Vorwurf in seiner Stimme lässt Veronika ungläubig auflachen.
    Mattis tritt nach einem Brötchen und kickt es in den Schacht. Sie hören es nicht fallen, der Schacht ist zu tief, das Brötchen zu leicht. Dann wendet er ihr den Rücken zu, als wäre das Brötchen sein letztes Argument gewesen. Er stützt sich erbittert auf das Geländer.
    Nach einer Weile hört sie ihn murmeln: »Wenn du willst,

Weitere Kostenlose Bücher