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Das Wort des Hastur - 12

Das Wort des Hastur - 12

Titel: Das Wort des Hastur - 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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könne sehr wohl allein zurechtkommen, bestand Melitta darauf, ihm beim Ausziehen der Stiefel zu helfen. Zu ihrer Bestürzung mußte sie feststellen, daß der Fuß bereits so stark angeschwollen war, daß der Stiefel sich nicht abziehen ließ. Sie fragte sich besorgt, ob es besser wäre, das Schuhwerk aufzuschneiden oder doch lieber als Stütze für den verletzten Knöchel anzubehalten. Da sie aber fürchtete, der Fuß könne sich unter dem engen Leder noch zusätzlich entzünden, schnitt sie schließlich den Stiefel auf. Dabei bemühte sie sich, bei Lerrys Stöhnen nicht vor Mitleid zusammenzuzucken. Stefan brachte etwas Schnee, den sie auf die geschwollene Stelle packten. »Ich glaube es einfach nicht, daß mir so was passieren muß«, sagte Lerrys immer wieder vor sich hin. Aber schließlich entspannte er sich ein wenig, als der kühlende Schnee seine Wirkung tat und die Schmerzen nachließen.
    Sie waren alle viel zu müde, um noch Wasser aufzukochen, und so saßen die Vier im Unterstand und kauten an gedörrten Früchten und Trockenfleisch. Dann endlich wickelten sie sich in ihre Decken; die Füße streckten sie dem wärmenden Feuer entgegen, während Kopf und Körper im Unterstand Schutz fanden.
    Als sie so zwischen Wachen und Schlaf dalag, lauschte Melitta dem friedlichen Lied des Baches und wunderte sich über das seltsame Verhalten der Tiere. Was sollte sie nur mit Stefan machen? Über solche Gedanken schlief sie ein.
    In ihren Träumen durchstreifte Melitta das Grau der Oberwelt. Aus der Ferne hörte sie ein Kind rufen. Sie folgte der Stimme durch die Nebelschwaden, bis sie auf eine kleine Gestalt stieß. Das Kind konnte ihrer Meinung nach kaum älter als Ysabets Sohn Donal sein, also gerade mal zwei Jahre. Melitta wollte ihn trösten, aber der Junge wich ihr mit erstaunt aufgerissenen Augen aus. »Warum weinst du?« fragte sie.
    Er drehte sich um und wies auf die leere Einöde hinter ihm. Mit einem Mal regte und bewegte sich die graue Masse, bis alle möglichen Tiere wie Hunde, Marls und Rabbithorns aus den Nebeln hervortraten und sich um den Jungen drängten. Melitta beobachtete, wie er seine kleinen Hände in die Fellknäuel grub, die Tiere wahllos streichelte und sie noch dichter an seinen kleinen Körper schmiegte. Sein Schluchzen verwandelte sich in erst leises, dann immer übermütiger werdendes Lachen, als mehr und mehr Tiere auftauchten, bis sie beide schließlich ganz von ihnen eingekreist waren. Schon bald ergossen sich Scharen von Tieren über das Kind und preßten sich gegen Melitta, so daß es ihr fast den Atem nahm.
    Das Kind! Es wird ersticken!
    Sie schob und drängte die Tiere zurück, um in dem geschmeidigen Gefüge der Oberwelt etwas Platz für sich und den Jungen zu schaffen. In kurzen, stoßartigen Atemzügen rang sie nach Luft. In Gedanken malte sie sich den sonnendurchfluteten Wintergarten zu Hause aus; die Pflanzen dort hatten immer eine belebende Wirkung auf sie ausgeübt. Das Gewebe der Oberwelt kräuselte sich. Das Kind! Sie mußte das Kind in Sicherheit bringen. Sie suchte im Nebel nach dem Jungen – aber er war verschwunden!
    Melitta schrie auf. Immer und immer wieder rief sie nach ihm, bis sich ihre Kehle ganz trocken und wund anfühlte. Aber das Kind blieb verschwunden. Und auch die Tiere waren nicht mehr da. Was war vorgefallen?
    Verzweifelt floh sie aus der Oberwelt in die kalte Herbstnacht zurück. Melitta fuhr erschrocken hoch. Der Traum war so real gewesen. Noch immer konnte sie spüren, wie sich die warmen Leiber an sie drückten, noch immer hing ihr der Geruch von Tieren, Stall und Kot in der Nase. Was war geschehen?
    Vor Aufregung konnte Melitta nicht wieder einschlafen. Sie richtete sich in ihren Decken auf und starrte in die Dunkelheit. Jenseits des niedergebrannten Feuers luchste ein Augenpaar zurück. Die Pferde und Chervines stampften ruhelos auf. Sollte sie Rafael wecken? Aber noch ehe sie ihn rufen konnte, waren die Augen nach kurzem Blinzeln verschwunden. Melitta spähte angestrengt in Richtung der Büsche, ob dort vielleicht die Augen wiederauftauchten, konnte aber nichts erkennen. Nach einiger Zeit beruhigten sich auch die Tiere wieder, und Melitta kuschelte sich in ihre Decken. Doch eine Frage ließ ihr keine Ruh: Was war aus dem Kind geworden?
     
    Am nächsten Morgen erwachten sie bei leichtem Schneefall; der ausgekühlte Boden war bereits von einerdünnen Schneeschicht bedeckt. Hinter dem Schirm aus tiefhängenden Wolken wirkte die blutrote Sonne

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