Das Wort des Hastur - 12
Darkovers wie ein glühender Holzscheit. Avarra sei uns gnädig! dachte Melitta insgeheim. Wenn es den ganzen Tag über und noch bis in die Nacht hinein weiterschneien sollte, wäre an eine Fortsetzung der Reise tagelang nicht zu denken. Sie würden zu spät zu Ysabets Entbindung kommen. Melitta hatte ein ungutes Gefühl, das sich bei ihr auch immer dann einstellte, wenn sich im Sommer ein Gewittersturm zusammenbraute.
Stefans entsetzter Schrei lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Reit- und Packtiere. Als sie und Rafael herbeistürzten, zeigte Stefan ihnen die durchgerissenen Stricke.
Das Chervinekalb und das Muttertier waren verschwunden!
Stefan deutete auf einige Haarbüschel an den Zweigen – allem Anschein nach ein Wolf.
Melitta sank der Mut noch tiefer. Unter diesen Umständen waren die Chervines eine sichere Beute für die Wölfe.
»Ich könnte sie suchen gehen«, meinte Rafael, aber Melitta erkannte an seinem Tonfall, daß auch er die Suche für zwecklos hielt.
»Nein«, erwiderte sie barsch, was ihr gleich wieder leid tat. Auch wenn sie gereizt war, brauchte sie deshalb noch lange nicht ihren Unmut an Rafael auszulassen. Besänftigend fügte sie hinzu: »Wir haben einfach keine Zeit dazu, selbst wenn wir eine Spur hätten, der wir folgen könnten. Lerrys braucht dringend Hilfe, und Ysabets Baby kann jeden Moment zur Welt kommen!« Durch die wirbelnden Schneeflocken schaute sie nach Osten.« Bitte, Ysabet, bitte, warte noch mit dem Baby. Und um sich für ihre rüde Art ganz zu entschuldigen, erklärte sie noch: »Ich werde Vater berichten, daß der Verlust der beiden Chervines unvermeidlich war.« Rafael war sichtlich erleichtert.
Lerrys’ Gestöhn unterbrach sie. Er hatte die Decken zurückgeworfen und hielt seinen rechten Fuß, der inzwischen dunkelrot angelaufen war, in die kalte Morgenluft. Rafael brachte einige Kleiderfetzen, die Melitta rasch um den Fuß wickelte, während Lerrys tapfer die Zähne zusammenbiß. Mehr konnte sie für ihn im Augenblick nicht tun. Er bedurfte dringend die Hilfe einer Kräuterfrau oder, besser noch, der magischen Heilkünste einer ausgebildeten Leronis. Und dies war nur bei Ysabet zu erhalten.
Nach einer hastig am Feuer eingenommenen Mahlzeit sattelten sie die Pferde und beluden die Packtiere, wobei sie die Last des verschwundenen Chervines auf die zwei verbliebenen Tiere verteilten. Mensch und Tier schienen gleichermaßen gereizt zu sein. Selbst Rafaels sonst so phlegmatische Stute biß ihm in die Schulter.
Als sie den östlichen Abhang des Tales hinaufritten, murrten die beiden Chervines widerwillig gegen die zusätzliche Last. Die Pferde bockten auch weiterhin, wenn der Pfad nach Süden führte, und die Reiter mußten sie zusätzlich antreiben. Auf den nach Norden weisenden Wegabschnitten schritten sie hingegen eifrig durch den knöcheltiefen Schnee. Zum Glück blieb der Schnee auf dem kalten Boden trocken und pulvrig, und auch der Weg war nicht vereist.
So kämpften sie sich den östlichen Abhang des Tales weiter hinauf, überquerten einen Kamm und ritten schließlich in ein weiteres Tal hinab.
Melitta sah, wie zuerst Lerrys und dann Stefan aus dem Wald heraus in das Licht der Nachmittagssonne ritten. Auch sie tauchte jetzt in die Wärme ein, gefolgt von Rafael, der die Führleine der Packtiere an seinen Sattel gebunden hatte. Vor ihnen tat sich ein Geröllabhang auf, aber die Steine waren im wärmenden Sonnenlicht alle trocken. Moose und Flechten machten sich auf den Felsen breit. Nur unter den Bäumen blieben noch einige Schneefetzen liegen, zu denen die Sonnenstrahlen noch nicht vorgedrungen waren.
Die unvermutete Wärme tat Melitta gut. Den ganzen Morgen schon hatte sie diesen stechenden Schmerz im Nacken verspürt, und er war von Stunde zu Stunde schlimmer geworden. Jetzt erwärmten und lösten die Sonnenstrahlen die Muskelverspannung.
Lerrys rief ihr zu und deutete auf ein Flachstück unterhalb der Felsen. Melitta winkte zurück, und zusammen mit Rafael führte sie ihre Pferde zu dem Platz, den Lerrys ihnen gezeigt hatte. Die Tiere wieherten und schnaubten unsicher, da sie auf dem losen Geröll nur schlecht Halt fanden. Als sie endlich das Flachstück erreichten, blieb ihr Brauner mit einem Mal stehen und begann am ganzen Leib zu zittern. Melitta zog kräftig an den Zügeln, bis sich ihr Pferd wieder in Bewegung setzte und zu den anderen aufschloß. Sie bemerkte, daß der Weg sich hier gabelte; rechts führte er ostwärts zu dem Gut ihrer Schwester,
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