Das Wort des Hastur - 12
Pferde gingen durch und jagten auf den Wildbach zu. Rafael stemmte sich mit aller Kraft in die Zügel und versuchte, den Wallach aufzuhalten, aber es war vergebens. Für den Bruchteil eines Augenblicks konnte Melitta auf der anderen Seite des Baches Tiere und Vögel aller Art sehen: Kyorebni und Krähen hockten in den Bäumen, Pferde und Rabbithorns tummelten sich dort, und auch eine Bergkatze mit ihren beiden Jungen lag geschmeidig und nervös mit dem Schwanz schlagend auf einem erwärmten Felsen. Im Hintergrund stand ein kleines Steinhaus. Melitta hatte es kaum wahrgenommen, da stürzten die Pferde schon durch das Wasser.
Als sie die gegenüberliegende Uferböschung hinaufpreschten, sah sie einen kleinen Jungen, der mitten unter all den wilden Tieren stand. Die Pferde und Chervines eilten noch immer in vollem Galopp auf ihn zu, und Melitta fürchtete, sie würden das Kind zu Tode trampeln. Sie schrie und gestikulierte wild, und die Männer taten das gleiche. Dann stoppte der Wallach aus vollem Lauf so abrupt, daß Melitta und Rafael abgeworfen wurden und zwischen lauter kreischenden Tieren landeten. Und wie viele Tiere es waren!
Melitta rieb sich die Stirn, auf der sich eine dicke Beule bildete. Als sie aufblickte, sah sie, daß Lerrys trotz seiner Verletzung im Sattel geblieben war. Rafael stand bereits wieder und klopfte sich dem gröbsten Dreck aus den Kleidern, während Stefan vom Rücken seines Pferdes aus ungläubig und doch erleichtert das Gewusel der Tiere bestaunte.
Der Junge! Wo war der Junge geblieben? Hatte er sich verletzt? Nein, zum Glück nicht. Dort drüben stolperte er gerade auf Stefans Stute zu, als ob er durch das Gewühl beim Mittsommerfest spazieren würde. Evanda und Avarra sei Dank – ihm war nichts geschehen. Inmitten des ganzen Chaos tauchte die Erinnerung an den Traum der letzten Nacht wieder auf: … ein Junge, umgeben von Tieren aller Art, die ihn fast erdrückten.
»Damisela, seid Ihr verletzt?«, fragte Rafael, der ihr den Weg durch die Tierschar freibahnte.
»Nein, nein, nur ein wenig … durcheinander.« Aber schon schreckte sie wieder zusammen, sodaß sich Rafael erneut nach ihrem Befinden erkundigte. »Dort …«, rief sie aufgeregt. »Unsere Chervines!« Und reichlich verwirrt fügte sie hinzu: »Dieses merkwürdige Gefühl, dieser Sog – es hat aufgehört!« Eindringlich starrte sie den rothaarigen Jungen an.
»Habt Ihr eine Erklärung dafür?«
»Ich? Ich kann es kaum glauben, aber die einzige Erklärung ist die, daß der Junge Laran besitzt, und zwar die MacAran-Gabe in vollem Umfang.« Dann wandte sie sich an Stefan. »Tut mir leid, Bruderherz, daß ich dir die Schuld …« Sie hätte den Satz zu Ende gesprochen, wenn nicht in den allgemeinen Aufruhr eine scharfe Stimme geplatzt wäre. Melitta drehte sich um und sah eine hagere, ausgezehrte Frau auf sie zukommen. Ihre zornige Miene und die gußeiserne Pfanne in ihrer Hand verhießen nichts Gutes.
»Wer seid Ihr?« herrschte die Frau sie an; gleichzeitig hielt sie angsterfüllt nach dem Kind Ausschau. »Garron, komm sofort hierher!« Sie riß Rafael den Jungen förmlich aus den Armen, der ihn gerade zu seiner Mutter bringen wollte.
Die Frau richtete sich auf und war, so wollte es Melitta scheinen, zum Äußersten bereit, als sie plötzlich innehielt und zuerst Melittas, dann Stefans rote Haare anstarrte und darin das charakteristische Zeichen der Edelblütigen auf Darkover erkannte.
»Vai Dom! Domna!« stammelte sie und versuchte unbeholfen einen Knicks. »Was bringt Euch hierher?« Da auch das noch kaum den höflichen Manieren entsprach, fügte sie eifrig hinzu: »Ich, Renata, stehe zu Euren Diensten.«
Melitta trat auf sie zu. »Mestra Renata, wir brauchen Hilfe für einen Verletzten.«
»Ich selbst habe nur wenig, womit ich behilflich sein könnte. Aber einen reichlichen Tagesritt nördlich befindet sich ein Dorf. Und dann gibt es noch Gut Castamir, südöstlich von hier und nicht ganz so weit entfernt.«
Melittas Blick streifte über die versammelte Tierschar, die jetzt allmählich zur Ruhe kam. Es waren so viele verschiedene Tiere! Einmal hier angelangt, würde es den Vieren wohl kaum gelingen, ihre Pferde und Chervines zum Aufbruch zu bewegen. »Ich fürchte, das könnte etwas schwierig werden. Aber vielleicht können wir alles weitere im Haus besprechen.«
Die Frau zögerte noch. Offenbar wußte sie nicht recht, welchem ihrer widerstreitenden Gefühle sie mehr trauen sollte. Aber als Lerrys mit Rafaels
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