Das Wuestenhaus
Ich bin kein Hund, den man herzupfeifen kann.«
»Aber deswegen sind Sie doch hier.«
»Trotzdem bin ich ein freier Mensch, oder? Lass uns hinunter zum Strand gehen. Ich habe Lust, etwas zu trinken. Es reicht, wenn wir in einer Stunde zurück sind.«
Wir gingen ein paar Schritte in Richtung des Strandes. Plötzlich spürte ich Ihre Hand auf meiner Schulter. »Warte mal.«
Sie kamen dicht an mich heran. Ich sah Ihr Gesicht, die kurzen schwarzen Bartstoppeln, die Lippen. Ich war mir sicher, dass Sie mich küssen würden. In diesem Moment wünschte ich mir, den Mut zu haben, selbst den ersten Schritt zu wagen und Sie zu überraschen.
Ich war kurz davor, es zu tun, als Sie sagten: »Halt still. Du hast einen kleinen Käfer in deinen Haaren.«
Ihre Finger glitten vorsichtig über meinen Kopf, viel länger, als es nötig gewesen wäre. Das bildete ich mir zumindest ein. Ich spürte die Wärme Ihrer Hand, die weichen Spitzen Ihrer Fingerkuppen. Mit einer ruhigen, langsamen Bewegung zogen Sie den winzigen Käfer aus einer Haarsträhne und warfen ihn zur Seite.
»Sie haben … schöne Hände.«
»Jetzt redet zum ersten Mal nicht mehr die störrische Maja aus dir.«
»Sie wissen genau, dass ich nicht störrisch bin.«
»Weiß ich das?«
»Einen Moment lang habe ich gedacht, Sie würden mich küssen.«
»Dann hätten deine Eltern ein Problem mehr.«
»Ich bin achtzehn.«
»In einem Jahr.«
»Wie?«
»Du bist eine schlechte Lügnerin, Maja. Außerdem wärst du die erste Frau, die ich küsse und die dabei Sie zu mir sagt.«
»Warum redest du so mit mir?«
Sie legten kurz die Hand auf meine Schulter und gingen mit mir in Richtung des Strandes. Sie wirkten plötzlich verunsichert. »Ich … Reicht es nicht, dass wir uns mögen?«
»Ich würde gern selbst entscheiden, was …«
»Das kannst du. Ganz sicher. Komm, lass uns was trinken gehen.«
In einer kleinen Strandbar holten Sie uns zwei Flaschen Bier. Wir setzten uns auf die Plastikstühle, die unter dem Schilfdach der Bar im Schatten standen.
Das Meer begann langsam tiefer und intensiver zu leuchten. Weite glitzernde Spuren zogen sich bis zum Horizont. Das Licht stach immer noch grell in den Sand und auf die leeren Plätze rund um die Strandschirme. Ich zog meine Schuhe aus und rieb über die leicht schmerzende Stelle am Fuß. Sie beugten sich nach vorn und sagten: »Zum Glück ist fast nichts mehr zu sehen.«
Ich nahm all meinen Mut zusammen und fasste nach Ihrer Hand. Ich betrachtete die Handinnenfläche und fuhr mit den Fingern langsam einige der Linien nach.
»Bei dir laufen die Linien kreuz und quer.«
Es war ein wunderbarer Augenblick - der schönste seit Wochen -, als ich mit den Fingern die Linien Ihrer Hand nachfuhr, die schwer und zugleich leicht war. Ich glaubte, einen Augenblick lang wirklich glücklich zu sein. »Mein Vater würde jetzt sagen: Der hat noch nie gearbeitet.«
»Jedenfalls nicht als Handwerker. Das stimmt.«
Ich ließ Ihre Hand wieder los. »Sag ehrlich, warum bist du vorhin nicht gleich zu dem Treffen mit dem Schriftsteller gegangen?«
»Das habe ich dir doch schon gesagt - ich lass mich nicht einbestellen.«
»Das ist alles?«
»Du willst ein Kompliment hören? Ich sage dir, warum ich gern mit dir zusammen bin. Als ich dich das erste Mal am Tisch mit deinen Eltern gesehen habe, fiel mir ein anderes Hotel ein, fünfzehn Jahre früher, in einem Ferienort irgendwo in Thüringen. Ich saß genauso zwischen meinen beiden Eltern wie du und hörte mir die endlosen Gespräche mit alten Leuten an, die die ganze Zeit über ihre Lebensversicherungen sprachen. Ich hätte mich nie getraut, nur ein Wort zu sagen, obwohl mein Vater mich ständig aufforderte, ich solle doch auch mal meine Meinung sagen. Ich wollte nur weg. Als ich dich sah, dachte ich, endlich, das ist eine neue Generation - sie macht ein Gesicht, als ob sie genau weiß, wie man sich wehren muss. Als du dann den Kellner verteidigt hast, war ich mir sicher, dass du keines dieser gelangweilten Mädchen bist, die mit ihren Lehrereltern und viel Geld in der Tasche durch die Gegend reisen.«
»Das klingt abfällig - Lehrereltern.«
»Ist nichts Persönliches. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich mag keine Lehrer. Deine Eltern sind die Ausnahme.«
»Weil du selber einer bist.«
»Ich bin Journalist - das ist ein Unterschied. Ich berichte nur. Ich will wirklich niemanden erziehen.«
»Meine Eltern sind anders. Meine Mutter hatte nie ein Problem damit, Lehrerin zu sein.
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