Das Wüten der ganzen Welt
schneller essen konnte als ich. Und das konnte, das durfte nicht sein, das ging gegen meine Ehre, das beeinträchtigte außerdem mein Selbstvertrauen. Wer sich darüber wundert, daß mich das so furchtbar schockierte, so unerwartet als schnellster Esser geschlagen zu werden, kennt nicht den Hochmut der Seele. Hinzu kommt, daß ich mir einst als Kind vorgestellt hatte, für etwas Großes bestimmt zu sein. Nichts war weniger wahr gewesen, aber doch hatte ich mich immer heimlich mit dem Gedanken getröstet: »Gut, ein besonders genialer Mensch bin ich zwar nicht, aber eins steht fest: Wenn es auf die Geschwindigkeit beim Essen ankommt, schlage ich jeden.« Es erscheint mir nicht unwahrscheinlich, daß jeder Mensch insgeheim solche Vorstellungen hat. Vielleicht könnte einer sogar denken: Ich bin zwar ein großer Trottel, aber niemand kann so kunstvoll einen Haufen scheißen wie ich. So was denk ich nämlich selber manchmal. Übrigens scheint das ein typischer Komponistengedanke zu sein. Komponisten sind nämlich, allen voran Mozart, durchweg anal fixiert. Man schlage nur in den psychoanalytischen Handbüchern nach.
Er hob wieder sein Glas. Sein schwarzbehaarter Arm ragte aus der zu weiten und dadurch zurückgeglittenen Manschette seines Oberhemds heraus. Höher und höher hob er das Glas. Er wollte es an die Lippen setzen, sah da erst, was ich bereits gesehen hatte: Das Glas war leer. Was für ein Trottel, dachte ich. Langsam drehte er sein Glas um. Der Fuß verschwand in seiner Faus t. Er richtete das Glas auf mich, schaute mich grimmig an und knurrte: »Mozart-Vergewaltiger.«
Auch ich hob mein Glas, trank, bis es leer war, richtete den Kelch auf ihn und sagte ruhig: »So? Immer noch Schuldgefühle, weil Sie damals eine Pistole auf mich gerichtet haben? Und daher aus Schuldgefühl nun so aggressiv zu mir?«
»Was?« fuhr er mich an. »Was sagst du, was meinst du?«
»Sie wissen verdammt genau, was ich meine«, sagte ich.
Alle am Tisch erstarrten. Niemand aß weiter. Bestürzt, entsetzt, erschrocken schauten sie abwechselnd ihn und mich an.
Er setzte sein Glas ab. Seine starkbehaarte Hand zitterte nicht. Furchtlos, ja beinahe unbefangen schaute er mich an. Während er mit dem Zeigefinger über den Rand des Glases strich, sagte er: »Erkläre dich näher.«
»Ist das notwendig?« fragte ich.
»Für mich schon«, sagte er, »ich soll eine Pistole auf dich gerichtet haben, ich... aber Sohntje, wie kommst du darauf?«
»Sie haben am Abend vorher ein Gastkonzert in Rotterdam dirigiert. Sie waren in der Nähe, Sie haben...«
»Wovon sprichst du eigentlich? Worum geht es eigentlich in Gottes Namen?«
»Um den Mord an dem Polizisten Vroombout. Begangen in unserem Lagerhaus. Am Samstag nachmittag, dem 22. Dezember 1956. Nachdem Sie ihn erschossen hatten, haben Sie die Pistole auf mich gerichtet, und Sie wollten mich...«
»Na, na, na«, sagte er, »ich glaube, ich höre nicht recht! Kommt man ganz aus Australien, um seinen Schwiegersohn zu besuchen...«
»Ja, jetzt erst, jetzt erst, lange nach der gesetzlichen Verjährungsfrist! In all den Jahren haben Sie nie einen Fuß auf niederländischen Boden gesetzt, und Joanna hat in all den Jahren nicht verstehen können, warum Sie nie gekommen sind. Während es doch allein deshalb war, weil Sie...«
»...keinen Fuß mehr in dieses Scheißland setzen wollte, wirklich keinen Fuß mehr, es ist nur, weil meine Tochter hier wohnt, sonst hätte mich niemand hier jemals wiedergesehen.«
»Meiner Meinung nach sind Sie deswegen in all den Jahren nicht hier gewesen, weil Sie Angst hatten, verhaftet zu werden, sobald Sie einen Fuß über die Grenze gesetzt hätten.«
»Wovon redest du eigentlich?«
»Das sagte ich Ihnen schon: von einem Mord, der am 22. Dezember 1956 während einer Evangelisationskampagne begangen worden ist. Und der Mann, der ermordet worden ist, war auch auf dem Kutter, mit dem Sie und noch einige andere hier am Tisch am Dienstag, dem 14. Mai 1940, nach England flüchten wollten. Und die anderen, die hier noch am Tisch sitzen, waren alle bei der Kampagne dabei. Und Simon, der den Kontakt mit dem Schiffer des Kutters hergestellt hatte, war an jenem Samstag auch dabei.«
»Woher weißt du, daß wir auch da waren?« fragte Professor Edersheim verblüfft.
»Ihr seid an dem Wochenende mit der Harwich-Fähre nach England gefahren und habt die Kinder bei Simon untergebracht.«
»Wie hast du das denn in Erfahrung gebracht?« fragte Frau Edersheim
»Durch Hester«,
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