Das Wüten der ganzen Welt
nach Australien reisen können.«
»So weit weg«, stöhnte ich.
»Er ist oft genug hier in der Nähe als Gastdirigent aufgetreten, du hättest sehr gut...«, sagte Alice.
»Ich verstehe nicht«, sagte ich, »warum er all die Jahre hindurch überhaupt nicht daran gedacht hat, auch nur ein einziges Mal in die Niederlande zu kommen.«
»Jetzt kommt er«, sagte Professor Edersheim, »er kommt wahrhaftig, zusammen mit seiner Tochter, und ich muß sagen, und das sage ich auch im Namen meiner Frau, ich weiß es sehr zu schätzen, daß du uns hierher eingeladen hast.«
Müde bimmelte noch immer das ferne Kirchenglöckchen, das höchstwahrscheinlich nicht »erneuert« war. Frau Edersheim fragte: »Muß noch etwas vorbereitet werden?«
»Nein«, sagte ich, »es ist alles fertig, Hester hat mir heute morgen wunderbar geholfen, nachher müssen nur noch ein paar Dinge in die Mikrowelle, aber dafür wird Hester schon sorgen.«
Ich richtete mich auf, sah Hester in der Küche, und es war genauso, als sei sie meine Frau, und beinahe glückselig ließ ich mich wieder in meinen Liegestuhl zurücksinken.
»Weiß dein Schwiegervater, daß wir hier sind?« fragte Minderhout.
»Nein«, sagte ich, »es ist eine Überraschung.« Zufrieden schloß ich die Augen, dachte noch: Ich habe heute nacht so schlecht geschlafen, und dann döste ich ein.
Als ich aus dem Schlaf hochschreckte, waren die Schatten noch länger. Die schrägstehende Sonne schien mir direkt ins Gesicht. Daher sah ich nur eine große schwarze Silhouette vor mir.
»So«, sagte die Silhouette, »so, so... na, ich muß ehrlich sagen, daß ich mir die erste Begegnung mit meinem Schwiegersohn anders vorgestellt habe, aber schon in der Bibel steht: ›Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf.« Wollen wir mal annehmen, daß es bei dir so ist.«
Ich versuchte, mich aufzurichten, aber der kurze Schlaf hatte mich bleischwer gemacht. Es war, als sei ich für kurze Zeit wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Ich versuchte, etwas zu sagen, aber es gelang mir nicht. Da streckte die große schwarze Silhouette eine dicht behaarte Pranke nach mir aus und zog mich an der rechten Hand aus dem Liegestuhl. Noch immer benommen, stand ich schwankend neben ihm, selbst da begriff ich noch nicht, daß es endlich soweit war: Daß ich ihn sah und ihn in aller Ruhe dessen beschuldigen konnte, was mich all die Jahre hindurch - wie viele Jahre waren es eigentlich? - daran gehindert hatte, ein normales Leben zu führen. Außerdem hätte ich, weil er der Vater war, seine Tochter nicht heiraten dürfen.
Aber ich stand da, schläfrig und ein paarmal gähne nd, und von all dem, was ich hatte sagen wollen, von all dem, was mir in der vorigen, durchwachten Nacht hundertmal durch den Kopf gegangen war, um es ihm vor die Füße zu werfen, war nichts mehr vorhanden. Oder war ich schlichtweg eingeschüchtert? Er war riesengroß, er war kahl, aber zu beiden Seiten seines kahlen Schädels hatte er das, was noch an Haar da war, üppig wachsen lassen, so daß ihm eine graue Mähne bis auf die Schultern reichte. Was mich jedoch am meisten einschüchterte, waren seine Augen, seine durchdringenden, tiefliegenden braunen Augen.
Er sagte: »Stand dir unsere Begegnung so bevor, daß du dich vorsichtshalber in den Schlaf geflüchtet hast?«
Auch darauf wußte ich keine Antwort. Da war nur diese bleierne Müdigkeit, und ich hörte Hester rufen: »Zu Tisch!« Und während mir klar wurde, daß er wahrscheinlich schon seit mindestens einer Stunde mit den anderen getrunken hatte, stolperte ich neben ihm her zu dem großen, von Hester gedeckten Küchentisch, der jetzt auf der Terrasse stand.
Wie selbstverständlich setzte er sich mir gegenüber. Rasch schüttelte ich ein paarmal meinen Kopf, die schlimmste Dumpfheit wich, und ich blies meine rechte Wange auf und schlug die Luft heraus und merkte, daß ich die Welt wieder ertragen konnte. Er füllte sich als erster seinen tiefen Teller, wobei er mich die ganze Zeit heimlich beobachtete. Er wartete nicht, bis sich die anderen Gäste die Teller gefüllt hatten. Ohne zu zögern, fing er an, schamlos draufloszulöffeln. Joanna und ich schauten uns in die Augen, und ich lä chelte noch etwas benommen und wies neckend mit dem kleinen Finger auf den Suppenteller meines Schwiegervaters. Ob sie nun wohl auch zu ihrem Vater sagen würde, was sie so oft zu mir sagte: »Nun warte doch, du darfst erst anfangen, wenn jeder sich bedient hat.«? Sie errötete nur, senkte die Augen, und ich
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