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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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also haben Sie Vroombout erschossen.«
    »Welches Motiv sollte ich in Gottes Namen gehabt haben?«
    »Das weiß ich nicht, das hoffe ich jetzt zu erfahren.«
    Der Sommerabendwind fuhr durch seine langen grauen Haare. Wir gingen an Schrebergärten entlang, in denen grausame Kaninchen sich über hilflosen Salat und die Blätter der Prinzeßbohnen hermachten.
    »Nehmen wir an, ich hätte Vroombout wirklich ermordet«, sagte er, »warum willst du dann wissen, nein, laß es mich anders ausdrücken: Welches Recht hast du darauf zu erfahren, was das Motiv für diese Tat gewesen sein könnte?«
    »Recht auf... ist altes Sozialistengeschwätz«, sagte ich, »Recht habe ich auf gar nichts, aber ich kann Ihnen versichern, daß ich jahrelang, wenn nicht jede Nacht, so doch sehr oft schweißgebadet aus einem Alptraum aufgewacht bin, in dem Sie mich noch im nachhinein erschossen haben. Manchmal wurde ich fast verrückt davon. Hätte ich damals gewußt, wer der Mörder ist, dann hätte mir das unglaublich viel Elend erspart. Todesängste habe ich oft ausgestanden. Weißt du nicht, wer der Mörder ist, dann weißt du auch nicht, vor wem du Angst haben mußt, und fürchtest dich sozusagen vor jedermann.«
    »Was für dummes Zeug«, sagte er, »natürlich warst du erschrocken, natürlich hast du Angst gehabt, aber nun übertreibst du. Jahrelang Todesangst, viel Elend erspart, ach komm. Du bist neugierig, du willst wissen, was da geschehen ist. Du hast höchstens all die Jahre hindurch deine Angst genossen. Dagegen ist gar nichts einzuwenden: Der Mensch lebt aus seinen Ängsten, schafft aus seinen Ängsten. Sei froh über ein solches Ereignis in deinem Leben, die meisten Menschen müssen ohne auskommen.«
    Wir erreichten den Pfad, der am Wasser entlangführte. Die Wellen des Sees schlugen an die Basaltblöcke des Ufers. Er stieg die Böschung hinunter. Er bückte sich, schöpfte mit seinen großen Händen Wasser aus dem See und goß es sich über die Stirn. Es war, als taufe er sich selber.
    Er blieb einen Augenblick lang sitzen, drehte sich zu mir um, schaute von der Uferböschung aus zu mir hoch und sagte: »Vor mir brauchst du dich wirklich nicht zu fürchten.«
    »Sie waren allerdings ganz hübsch aggressiv heute nachmittag und zu Beginn des Abends.«
    »Findest du das merkwürdig?«
    »Nein«, sagte ich, »Schuld schafft Aggression.«
    Er kam herauf. Wir gingen weiter. Er sagte: »Weißt du, was ich mich all die Jahre über gefragt habe?«
    »Nun?« fragte ich.
    »Warum du nach dem Schuß so ruhig weitergespielt hast.«
    »Weil ich daran gewöhnt war, daß mein Vater fast jeden Samstagnachmittag eine Papiertüte kaputtschlug, die er aufgeblasen hatte.«
    »So, tat dein Vater das?«
    »Ja, das war für ihn ein hübsches Späßchen.«
    »Woran Menschen nicht alles ihre Freude haben können! Nun gut, während der Schuß knallte, sangen sie draußen ein Lied, dessen Te xt ich natürlich sehr gut kenne, weil Bach den Choral auch in der Matthäus-Passion verwendet. Mit einer anderen, besseren Melodie übrigens. Ein Text, der von Gott handelt, der über dich wacht und der alles lenkt und den du nur für dich sorgen lassen sollst. Das sangen sie, während im selben Augenblick jemand erschossen wurde. Sonderbar, wie ist das möglich... wie hieß es noch gleich?«
    »Laß ihn lenken, wachen, es ist Weisheit, was er schafft, so wird er alles machen, du erstaunst ob seiner Macht.«
    »Genau, erstaunen, aber sie sangen erst noch etwas anderes, sie sangen zuerst die niederländische Version von Befiehl du deine Wege.«
    »Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt; der Wolken, Luft und Winden gib t Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß...«
    »...in die Gaskammern gehen kann«, ergänzte er.
    Wir kamen an einen Weg voller Muscheln. Unter unseren Füßen knirschten die zerspringenden Schalen. Trotz des Nordwindes war es ein friedlicher Spätsommerabend. Rotkehlchen sangen ihr eitles Lied in den sich wiegenden Zweigen.
    »Sind wir nun schon einmal rundherum gelaufen?« fragte er.
    »Nein«, sagte ich, »wir können gleich hier abbiegen, dann gelangen wir in ein Schilfgebiet, und es folgt noch ein anderer Pfad direkt am Wasser.«
    »Gut«, sagte er, »gehen wir.«
    Auf diesem Muschelpfad direkt am Wasser sagte er: »1937 war ich verlobt. Eines Abends spielten wir die Zweite von Brahms. Bei der Coda des ersten Satzes, in der Brahms das Hauptthema so unglaub lich schön

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