Das Wüten der ganzen Welt
umkehrt, blickte ich in den Saal. In der dritten Reihe saß ein dunkelhaariges Mädchen. Sie sah mich an, ich sah sie an. Wer hat noch gesagt, daß zwei Menschen einander mit dem Blick kommender Geschlechter anblicken können? So sahen wir einander an, aber ich war schon versprochen. Einen Monat später stand ich in einer Musikalienhandlung. Sie kam herein, wir sahen uns, sie lächelte, ich fragte: ›Wie heißt du?‹, sie sagte: ›Ruth.‹ Ich sagte: ›Wo du hingehst, da werde auch ich hingehen, und wo du nächtigst, da werde auch ich nächtigen.‹ Sie war auch schon versprochen. Ein Drama, na gut, was soll's. Dann waren wir einander versprochen, dann kam die Kristallnacht. Da haben wir geheiratet und sind in die Niederlande geflohen. Ein Vetter spielte bei der Rotterdamer Philharmonie, konnte mir da zu einer Stellung verhelfen. Es gefiel mir in Rotterdam, auf die Dauer wäre ich vielleicht sogar Konzertmeister geworden, aber im Mai 1940 überfielen sie das Land. Ruth wollte nicht fliehen, ich ja. Ich hatte Simon Minderhout kennengelernt. Der rief am zweiten Pfingsttag an, wußte einen Schiffer, na gut, den Rest kennst du.«
Lautlos fuhr ein Segelboot auf dem See vorbei.
Eine Frau saß am Ruder, ein Mann richtete die Segel. Mein Schwiegervater schaute ihnen nach, schloß die Augen, legte die Handflächen darauf, pfiff das Hauptthema aus der Zweiten von Brahms. »Anfang 1943 sind wir beide untergetaucht. Zuerst noch zusammen auf einem Bauernhof in der Gegend um Rotterdam. Da konnten wir leider nicht bleiben. Anfang '44 konnte sie in der Dachkammer einer Oberwohnung in Rotterdam- Zuid unterkommen; ich schlug mich irgendwie durch. Einmal bin ich 1944 im Vorfrühling noch bei ihr gewesen, obwohl es riskant war, und vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich sie da nicht besucht hätte. Danach war sie, obgleich wir sehr vorsichtig gewesen waren... na ja, offenbar nicht vorsichtig genug... war sie schwanger. Konnte da nicht mehr in der Oberwohnung bleiben. Konnte anscheinend in derselben Straße bei einem kinderlosen Ehepaar unterkommen. Anfang November scheint das Kind dort geboren worden zu sein. Was damals genau passiert ist, weiß ich nicht; wir hatten keinen Kontakt mehr, ich trieb mich herum, sie konnte nicht mehr schreiben, und da, wo sie war, gab es kein Telefon, ich konnte sie nicht anrufen. Wahrscheinlich ist sie, kurz nachdem das Kind geboren war, dort von Vroombout aus dem Haus geholt worden. Oder sie ist im November 1944 bei einer Razzia ganz einfach von Vroombout auf der Straße aufgegriffen worden. Aber warum ist sie auf die Straße gegangen? Oder ist sie von dem Ehepaar glatt auf die Straße gesetzt worden? Sie ging auf der Straße, und Vroombout erkannte sie. Von dem Kutter her. So könnte es sich abgespielt haben, meint Simon. Er kann schon recht haben. Vroombout hat sie, vie lleicht auch sozusagen aus Rache für den verlorengegangenen Kutter... ach, wer weiß es... Oder hat das Ehepaar vielleicht einen Deal mit Vroombout gemacht?«
Er schwieg eine Weile. Wir kamen zu einer Bank, er sagte: »Setzen wir uns einen Augenblick.«
Als wir dort saßen, er weit vornübergebeugt, die Ellbogen auf den Knien und mit geballten Fäusten den Kopf stützend, sagte er: »Die Leute von diesem Kutter gaben uns die Schuld am Verlust ihres Schiffs. Oft denke ich, daß Vroombout aus Rache... Simon glaubt das nicht, Simon hat nach dem Krieg immer wieder mit Vroombout gesprochen, auch darüber, auch wenn er nie etwas über Ruth hat erzählen wollen, nie... Nein, Simon glaubt das nicht, Simon hat wirklich alles getan, um dahinterzukommen, was damals genau passiert ist. Er hat sogar noch die alte Dame wiedergefunden, bei der Ruth Anfang '44 untergetaucht war. Ende der fünfziger Jahre, in einer Irrenanstalt. Aber sie wußte nichts mehr, sie war schwachsinnig, das einzige, was Simon noch von ihr in Erfahrung gebracht hat, ist, daß das kinderlose Ehepaar im November 1944 umgezogen ist. Daraufhin habe ich es noch einmal gewagt, damals in die Niederlande zu kommen. Simon hielt das für möglich, die Polizei dachte damals noch, Vroombout sei von einem seiner homophilen Freunde ermordet worden.«
Friedlich plätscherte das Wasser des Sees. Er sagte: »Später meinte dieser Douvetrap, daß er wüßte, was geschehen sei. Was er nicht begreifen konnte, war nur, warum ich bis 1956 gewartet haben sollte. Er wußte nicht, daß wir Vroombout noch nötig hatten, daß wir von Vroombout nicht nur erfahren wollten, was nun genau
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