Das Wüten der ganzen Welt
Stille nicht mehr aushalten konnte, beiläufig und vorsichtig: »Und wenn das Kind jetzt noch auftauchen würde?«
»Das Kind? Ich weiß es nicht. Würde es riechen, wie sie roch? Würde es ihre Augen haben? Vielleicht wäre es ein Trost. Vielleicht auch nicht. Ich fand damals, 1956, oder schon früher, daß es wenig Sinn hatte, herausbekommen zu wollen, was damals mit dem Kind passiert war. Wenn es noch lebte, war es bei anderen Leuten aufgewachsen und würde in mir einen fremden, alten Mann sehen... nein, das Kind... Simon wollte es wissen, Simon hat allerlei Theorien, Simon denkt, daß das kinderlose Ehepaar Ruth bei einer Razzia auf die Straße gesetzt hat, um das Kind... oh, das habe ich schon gesagt, ich werde alt, ich wiederhole mich, ach, laß nur, wenn du es wissen willst, frage Simon, für mich spielt es keine Rolle mehr. Mir ist, als ob ich längst gestorben bin. Simon hat sich noch kindlich gefreut, als er von der verwirrten Frau erfahren hatte, daß dieses Ehepaar mit einer Mähre, und zwar mit einer hochbeinigen, einer dubbele hit, umgezogen ist.«
Und da saß ich neben meinem Schwiegerva ter, zu meinen Füßen das plätschernde, manchmal schwappende Wasser des Sees und schaute nach den Windstößen, die auf dem Wasser zu Kräuselungen wurden, Kräuselungen, die sich von Westen nach Osten bewegten, und ich schaute zum Himmel hinauf und sah, daß die Abendwolken von Osten nach Westen trieben, und ich sah zwischen den dunklen Wolken die tröstliche Gegenwart der Plejaden, und ich dachte: Das ist doch unmöglich, wenn der Wind aus Südwest kommt, können ihm die Wolken doch nicht entgegentreiben? Und ich dachte auch: Das ist doch zu verrückt, um es in Worte zu fassen, dies ist der absolute, komplette, vollständige Wahnsinn, solche Dinge können in Opern vorkommen, in Figaros Hochzeit, aber doch nicht in Wirklichkeit? Gut, Gott sucht uns zu töten, aber einen so schlechten Geschmack kann er doch nicht haben?
Ich schaute hinauf zum Sommerabendhimmel, dachte wieder an die »Gärtnerei», wo ich einen Sommer lang gefischt hatte, sah das Wuchern der alles erstickenden, alles erwürgenden Zaunwinden vor mir, die blühenden Zaunwinden, die alles für das Auge unsichtbar gemacht hatten: die Pforte, die Brombeerbüsche, den Flieder, die mit ihren friedlich sich wiegenden, wunderschön aussehenden weißen Blumenkelchen ein trügerisches Paradies geschaffen hatten, ein Paradies, in dem ich einen Sommer lang zu Gast gewesen war, ein Paradies sans nul souci des querelles du monde, ein Paradies ohne Rücksicht auf das Wüten der Welt, wo man nicht zu finden war für den, der einen zu töten suchte. Allmächtiger Gott, dachte ich, allmächtiger Gott. Und ich dachte auch: Solange ich schweige, ist es nicht wahr, ist es nicht geschehen, braucht es niemand zu erfahren. Und wie vernichtend der Gedanke auch sein mochte, der mir durch den Kopf geschossen war, am meisten wunderte es mich, daß ich eher Verbitterung als Erstaunen in mir empfand.
»Dann können wir ja allmählich wieder nach Hause gehen«, sagte ich.
»Gut«, sagte er.
Schweigend wanderten wir über die kleine Insel bis zur Brücke. Als wir fast bei der Brücke angekommen waren, sagte er: »Weißt du, was du tun mußt? Du mußt eine Oper komponieren. Dann werde ich mich, wenn mir die Zeit vergönnt ist, dafür einsetzen, daß sie hier in den Niederlanden aufgeführt wird. Und ich werde sie dirigieren. Ja, du mußt eine Oper komponieren, du hast eine zauberhafte Mezzosopranistin bei dir, gib ihr die Hauptrolle und sorge auch für eine kleine Rolle für Hester; ich habe sie nie singen hören, aber sie hat eine schöne, helle Sprechstimme. Es ist freilich ewig schade für dich, daß der Mensch nicht mit zwei Frauen zugleich verheiratet sein kann.«
Ich antwortete nicht, ich konnte nicht, und er fragte: »Was ist los? Warum sagst du nichts?«
»Ja«, sagte ich.
»Was ja?«
»Ja«, sagte ich, »ich werde eine Oper komponieren.«
»Sehr begeistert bist du nicht«, sagte er.
»Es kommt so plötzlich«, sagte ich.
»Du hast Talent dazu«, sagte er, »Joanna brachte mir, wenn wir irgendwo zusammen auftraten, ab und zu eine Komposition von dir mit, sie hoffte dann, daß ich das Werk aufführen würde, aber als Dirigent bekommst du so unglaublich viel zugeschoben, es wird so unsäglich viel komponiert, und erstaunlich vieles davon ist fabelhaft und wird niemals aufgeführt, ich habe Stapel liegen, Stapel, es kann einen manchmal zur Verzweiflung bringen, vor
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