Das Wüten der ganzen Welt
Glocken. Wenn es Sommer ist und Sonntag nachmittag und sich das große Himmelsrund strahlend blau über meinem Kopf wölbt, und dort, wo ich in dem Augenblick bin, auch noch Kirchenglocken läuten, kehrt jener heitere, sonnige Sonntagnachmittag glasklar wieder in meine Erinnerung zurück. Dann ist es, als würden all die Glocken, die damals so ohne Ordnung und wie in Verzweiflung durcheinanderdröhnten, die Stille der unendlichen Räume, vor denen Pascal sich so fürchtete, heraufbeschwören. Dann fürchte ich mich noch rückwirkend, dann fühle ich mich unvorstellbar nichtig in diesem gewaltigen Weltall mit seinen unzählbaren Milchstraßensystemen und seinen noch weniger zählbaren Sternen und seinen Milliarden Planeten, die sich um die Sterne drehen und deren Existenz wir nur vermuten. Dann kann ich mir nicht vorstellen, daß bei einem solchen Überfluß an Planeten allein auf der Erde Leben entstanden ist. Dann stelle ich mir vor, wie weit und breit im Weltall Glocken verzweifelt läuten, und dann fürchte ich mich mit größerer Furcht als die Hirten, die bei Nacht auf dem Felde lagen. Dann kann ich den angstvollen Schauer, der mich umfängt, ein wenig beschwören, indem ich immer wieder murmele: »Gott suchte Moses zu töten, Gott suchte Moses zu töten.»
Vroombout
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, kann ich auch kaum glauben, daß ich eine ganze Saison hindurch mit ziemlich großer Begeisterung geangelt habe. Übrigens auf Drängen meines Vaters. Unter dem von ihm gesammelten Altmetall fand er ein komplettes Angelgerät. Er gab es mir und sagte: »Geh doch fischen!« Und - wie die Jünger - fischte ich. Trotz ihres modrigen Geschmacks ließ sich mein Vater, genau wie meine Mutter, die grätigen Rotfedern, die ich mit nach Hause brachte, gut schmecken. Alles, was ich aus dem Wasser zog, war ja gratis! Und dennoch: Habe ich wirklich ein ganzes Frühjahr, einen ganzen Sommer, einen ganzen Herbst lang fast alle meine freien Stunden mit einer Angel am Ufer zugebracht? Oder ging es mir gar nicht so sehr ums Angeln, sondern darum, in einem vollkommen verwilderten, mit hohem rostigem Maschendraht eingezäunten Garten zu sein, der im Hoofd die »Gärtnerei« genannt wurde? Das wild überwucherte Gelände lag in der Nähe eines Dieselschöpfwerks; es war nicht einfach, dorthin vorzudringen. Die Pforte war immer verschlossen. Sie war mehr als zwei Meter hoch und oben mit einer doppelten Reihe Stacheldraht versehen. Aber hinter einem Fliederbusch kannte ich eine Öffnung im Zaun. An freien Mittwoch- und Samstagnachmittagen wand ich mich mit meiner Angel hindurch. Und dann bahnte ich mir einen Weg zwischen Fliederbüschen, Brombeeren und kindshohen Brennesseln, die durch die wild wuchernde Zaunwinde dem Auge entzogen waren. Am Ufer angekommen, war hinter mir eine schier undurchdringliche, mit Tausenden von Ackerwinden geschmückte Brombeerhecke, und mir schien es, als ob Gott selber, wenn er mich zu töten suchte, mich nicht mehr zu finden wüßte. Und wenn er wirklich hierherkäme, könnte ich in dem braunen Ruderboot wegfahren, das neben einer Trauerweide festgemacht war. Es stand voll Wasser aber wer sollte mich daran hindern, es leer zu schöpfen, falls notwendig?
Es ist unbegreiflich, daß ich mich eine ganze Saison lang auf etwas gestürzt habe, was nichts mit Schnelligkeit oder Hast zu tun hatte. Zu Hause bekam ich von meinem Vater bei allem, was ich tat, immer nur zu hören: »Du tust, als wenn du dafür bezahlt würdest!« Und zog ich für meine Mutter Brechbohnen ab, dann sagte sie unter Garantie: »Was bist du doch wieder ungeduldig, mach es doch in Ruhe!« Bei Tisch wurde mir immer vorgehalten, daß ich es »später mit dem Magen kriegen« würde, »weil ich viel zu hastig aß«, und wie oft habe ich zu hören bekommen: »Immer mit der Ruhe, die Welt wurde auch nicht an einem Tag geschaffen!« Meistens wurden diese Zurechtweisungen um den Reim ergänzt: »Immer Geduld bei allen Sachen, das andre wird sich von selber machen.« Auch wenn ich etwas trank, bekam ich neun von zehn Malen zu hören: »Muß das nun so hastig sein? Kind, Kind, Eile mit Weile, nicht Hast ohne Rast!«
Trotzdem gab mein Vater anderen gegenüber so manches Mal mächtig an mit meinem Tempo. Zu Wäschereibesitzer De Vries hörte ich ihn einmal voller Stolz sagen: »Wie der Junge Lumpen sortieren kann! Zwei Säcke im Handumdrehen, unglaublich jaja, wir brauchen keine Angst zu haben, daß er sich mal unter Marktwert verkaufen
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