Das Wüten der ganzen Welt
»Katzenwäsche« machen. Bei einer Katzenwäsche benutzte man keine Seife, sondern spritzte sich morgens ein paar Wassertropfen ins Gesicht.
Daß wir - jedenfalls erweckte mein Vater immer den Anschein - bitterarm waren, wurde für mich vollständig durch einen wunderbaren Gegenstand kompensiert, der links neben den Särgen im Lagerhaus stand. Mein Vater murrte manchmal darüber, sagte, daß er schon dastand, als er den Trödelladen im Krieg hatte übernehmen können, aber Gott sei Dank hat in den Jahren vor dem Mord an juut Vroombout nie jemand einen Blick auf den phantastischen und merkwürdigerweise niemals ganz verstimmten Blüthner geworfen. Daher blieb das Instrument dort stehen, und ich konnte darauf spielen, sooft ich wollte. Außerdem lag auf dem Blüthner neben einem Gedichtband von Guido Gezelle*( Guido Gezelle (1830-1899), flämischer Dichter, katholischer Priester, schrieb Naturlyrik mit meist religiösem Grundduktus. (Anm. d. Übers.)) ein Stapel Klaviernoten. Eines der Bücher, ein riesiger, in rotes Leder gebundener Foliant, war eine »vollständige Anleitung, um ohne Lehrer Klavier spielen zu lernen«, wie jemand mit Bleistift in niederländisch über den deutschen Untertitel geschrieben hatte. Alles, was das phantastische Riesenwerk außerdem noch an Text - in Fraktur gedruckt - enthielt, war für mich unleserlich. Aber eine feste Hand hatte mit Bleistift unter und über den Text Übersetzungen geschrieben. Außer den Übersetzungen enthielt das Werk auch noch Anmerkungen des Bleistiftschreibers. Als Kind wußte ich das nicht; ich habe es erst später entdeckt. Wie dem auch sei: Mit diesem Buch habe ich mir selber das Klavierspielen beigebracht. Alles stand darin, Dur- und Molltonleitern, Harmonielehre, Kontrapunkt und auffallend kluge Übungen und raffinierte Etüden. Es war meine Bibel, mein Buch der Bücher, mein Gradus ad Parnassum, meine Via Regia in die Welt der Kreuze und Bs, der Dreiklänge und verminderten Septimenakkorde. Wenn ich darin studierte, war es, als schaute mir der anonyme Wohltäter, der mit Bleistift in seinen gut lesbaren Zwergenbuchstaben überall den ursprünglichen, deutschen Text ergänzt hatte, über die Schulter.
Das riesige rote Buch tröstete mich über alles hinweg, was ich als Kind entbehrte, auch wenn ich kaum wußte, was ich entbehrte. Freunde? Brüder und Schwestern? Großeltern? Andere Kinder hatten Großeltern und Onkel und Tanten. Meine Großeltern waren schon lange tot, und mein Vater und meine Mutter waren wie ich Einzelkinder gewesen, so hatte ich keine Onkel und Tanten und keine Vettern und Cousinen. Schlug ich das Buch auf, dann vergaß ich, wie verwaist wir waren. Blätterte ich darin, dann verschwamm sogar die irgendwie irreale und erst durch den Mord an juut Vroombout konkretere Wahnvorstellung, daß Gott mich, ebenso wie Moses, zu töten suchte. Und je weiter ich in dem Buch vordrang, desto sicherer wußte ich, daß es noch eine andere Welt gab als die enge Welt vom Hoofd, eine Welt mit anderen Namen, Namen, die man im Hoofd nie hörte: Bach, Mozart, Beethoven, Schubert; und von jenem Bach, über dessen Namen der Bleistiftschreiber schwungvoll »schwere Kost« geschrieben hatte, stand in dem Buch ein Stück mit der Überschrift Allegretto quieto, das man spielen und spielen konnte und das einen doch niemals langweilte. Man konnte es auf der Straße nachpfeifen, und dann war es, als beschützte es einen vor den gassies und gosern, beschützte vor dem Lächeln von Vroombout, sicherte ab gegen Gott, der danach suchte, einen zu töten. Und von jenem anderen Mann, Schubert, stand in dem Buch ein Stück mit der einfachen Überschrift Trio, ein Stück in As-dur und wahnsinnig schwer zu spielen. Das beschützte gerade nicht, im Gegenteil, das machte einen wehrlos, das zog einem die Haut ab. Wenn man es nachpfiff, bekam man jedesmal wieder Tränen in die Augen. Dann schien es, als löse sich die ganze Welt in süßen Schmerz auf. Dann war es, als würde es immer November bleiben und als wanderte man immer weiter im Abendlicht auf Straßen, die vom Nieselregen glänzten.
Wenn ich Samstag nachmittags am Blüthner saß, passierte es oft, daß mein Vater mit einer Papiertüte, die er schon im Wohnzimmer aufgeblasen hatte, ins Lagerhaus schlich. Direkt hinter mir schlug er dann auf die Tüte, und ausführlich genoß er danach meinen Schreck über den dröhnenden Knall. Er tat das so regelmäßig, daß ich mich an diesen Samstagnachmittags-Knall gewöhnte. Um ihm
Weitere Kostenlose Bücher