Das Wüten der ganzen Welt
radelte ich mit Janny zum Strand, und in der anderen Welt radelte Janny mit einem Jungen zum Strand, der sie sehr nett fand, und da erst begriff ich, wie beleidigend es war, daß ich sie »ein bißchen nett« genannt hatte. Daher sagte ich hastig: »Nun ja, mehr als ein bißchen nett. Sehr viel mehr, aber du kannst meiner Meinung nach durchaus jemanden sehr nett finden, ohne in ihn verliebt zu sein, denn verliebt... dann willst du meiner Meinung nach küssen und so...«
»Oh, das kommt erst später. Zu Anfang denkst du noch gar nicht daran, du bist nur ganz verrückt nach jemandem, nee, küssen... du liebe Güte... daß du es wagst, damit anzufangen, das hätte ich nie von dir gedacht.«
»Aber Menschen, die verliebt sind, küssen sich doch?« sagte ich verzweifelt. »Das ist doch nichts Besonderes?« »Nichts Besonderes?«
»Nein«, stöhnte ich verwirrt, und sie lachte hemmungslos, und ich lachte schließlich mit, und ich stellte mir unterdessen vor, daß ich auf der anderen Seite des Wassers, auf der Weverskade, entlangliefe und uns dort in der Spiegelung verkehrt herum mit unseren Fahrrädern fahren sähe. Solange die stille Oberfläche des Fleets da war, konnte ich mich durch diese Vorstellung ihrem fröhlichen, ungestümen Kichern noch entziehen.
Am Strand lag ich stundenlang neben ihr auf einem riesigen Badetuch. Mit großer Genauigkeit und Geduld rieb sie meinen Rücken mit Sonnenöl ein, und hastig und geniert rieb ich ihr den Rücken mit Sonnenöl ein. Und wir lagen dort, und es geschah nichts, was Gott, der auch das Verlangen schuf, verboten hätte.
Ebensowenig geschah etwas, als wir am Ende des Nachmittags im Hoekse Wäldchen schließlich nebeneinander auf einer Bank saßen.
Schüchtern fragte ich sie: »Ist das denn nun schön zu küssen?«
»Pah, fängst du wieder damit an?« sagte sie.
»Ja, aber ist es denn nun schön?«
»Es ist unter Garantie das Allerschönste, was es gibt«, sagte sie. »Wenn Herman jetzt hier wäre, würden wir uns die ganze Zeit küssen, dann würde er einen Arm um mich legen und mich ganz eng an sich ziehen, und dann würden wir... dann würden wir... oh, wie würden wir uns küssen... und küssen.«
»Gibt es denn einen Unterschied zwischen küssen und küssen?«
»Nee.«
»Warum sagst du dann ›küssen... und küssen‹?«
»Vielleicht, daß küssen... man sagt zwar: nasser Kuß...«
»Wenn es einen nassen Kuß gibt, muß es auch einen trockenen Kuß geben«, sagte ich.
»Ja, man kann auch trockener Kuß sagen. Sie gaben sich einen trockenen Kuß, ja, das kann man sagen... aber siehst du jetzt, daß du wieder damit anfängst... die ganze Zeit redest du nur vom Küssen... Würdest du mich... meinst du, daß du mich, wenn ich nicht verlobt wäre, daß du mich dann küssen würdest?«
»Ich würde gern wissen wollen, ob es schön ist, dieses Küssen, ich kann es fast nicht glauben, es kommt mir eigentlich ziemlich klebrig und ekelhaft vor.«
»Ekelhaft ist es nun überhaupt nicht!«
»Also, ich glaube nicht, daß ich es schön fände.«
»O doch, bestimmt, oh, ich wollte, daß Herman hier wäre, dann würden wir uns küssen, bis uns die Lippen weh täten.«
»Wenn zwei Menschen ihre Stirnen aneinanderlegen oder ihre Nasen oder ihre Zeigefinger, dann gibt es dafür kein Wort, aber wenn sie ihre Lippen aufeinanderlegen, sehr wohl. Irgendwie merkwürdig, findest du nicht? Lippen aufeinander: Das nennen sie einen Kuß. Als wäre es etwas. Aber Stirnen aneinander, dafür gibt es kein Wort, das ist also nichts. Ich finde es merkwürdig.«
»Überhaupt nicht merkwürdig, wenn du küssen würdest, dann wüßtest du das... Ich würde es dir gern ein bißchen beibringen, aber wenn man verlobt ist, darf man sich nicht mit einem andern küssen.«
»Nee, das darf man nicht«, sagte ich.
»Darf man nicht«, seufzte sie. Sie stand auf, sie nieste ein paarmal, schimpfte dann: »Ich erkälte mich noch.« Sie lief zu unseren Fahrrädern und sagte: »Laß uns nach Hause fahren, es ist schon so spät.«
Janny (2)
Nicht an jedem Tag dieses langen Sommers radelten wir zusammen ans Meer, Es geschah nur, wenn sie am Abend zuvor im Erker verkündete: »Morgen ist Strandwetter!« Auf dem Weg dorthin, während sie zur Weverskade hinüberzeigte, wurden mir immer erst die Warnungen ihrer ältesten Schwester in Erinnerung gerufen. Anschließend erzählte sie dann, wie sehr sie ihren »robbenden« Herman liebe. Etwa auf halbem Weg, bei der Oranjesluis, sagte sie dann stets, da
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