Das Wüten der ganzen Welt
die Sonne so unmäßig scheine, sei es eine Sünde, nicht an den Strand zu fahren, aber allein sei es für sie unmöglich. Auf diese Art rechtfertigte sie diese sonnendurchschmorten Tage, an denen wir nebeneinander auf einem großen Handtuch dösten.
Jede Stunde mußte sie wegen ihrer zarten, hellen Haut so gründlich wie möglich mit Sonnenöl eingerieben werden. Meistens rieb sie mich danach ebenso sorgfältig ein, obwohl ich schon bald so braun war, daß ich nicht mehr eingerieben zu werden brauchte. Ihrer Meinung nach blieb, wie braun man auch war, dennoch die Gefahr, einen Sonnenbrand zu bekommen, und mich störten diese geduldig streichelnden Hände wahrhaftig nicht. Sie fand immer, daß ich bei ihr zu schnell damit war. »Mach doch etwas langsamer«, bettelte sie. Oder sie sagte:
»Du schiebst meine Haut immer so grob hoch, du mußt das vorsichtig mache n, du mußt nicht gegen den Strich reiben!«
So lernte ich, mit dem Strich einzureiben, obwohl ich, wie sie sagte, nie an die Art, wie Herman sie mit Sonnenöl zu behandeln wußte, heranreichte.
Wenn wir stundenlang schläfrig auf dem großen blauen Handtuch gelegen hatten, kam immer der Moment, daß sie ins Meer wollte. Einmal im Meer, war dann plötzlich, obwohl sie verlobt war - und das auch immer wieder erwähnte -, alles erlaubt. Standen wir bis zur Taille in der Brandung, dann durfte sie mich umschubsen, und ich durfte sie umschubsen, und wir durften uns prustend an den Armen halten und uns gegenseitig hochziehen. Ich bin schlecht zu Hause im Bereich der Liebe, aber eins habe ich im Laufe meines Lebens doch gelernt: Wasser im allgemeinen - und Meerwasser im besonderen - spielt eine fundamentale Rolle in jeder Liebesgeschichte. Dabei ist das Wasser vor allem das Element der Frau. Wenn sie einen Mann mit Wasser überschüttet - und das kann sogar Spülwasser sein -, so ist das die deutlichste Liebeserklärung, die sie geben kann. Auch weiß ich jetzt, daß jede Frau, die verliebt ist, versucht, so bald wie möglich mit dem Auserwählten an den Strand zu gehen. Allerdings: Wie machen das Frauen, die tief im Binnenland wohnen?
Wir tollten in der Brandung und konnten uns dann mit soviel spritzendem Wasser um uns herum auch ganz einfach ab und zu das, was sie einen »Schmatzer« nannte, geben. Wie weit das ging, solch ein Schmatzer, weiß ich nicht mehr. Ich glaube nicht, daß unsere Lippen sich, es sei denn aus Zufall, jemals wirklich berührt haben.
Es war, als tasteten wir am Strand, im Hoekse Wäldchen und manchmal auch im Staelduynse Wald die Grenzen dessen ab, was erlaubt sein konnte, wenn einer von beiden verlobt war. Durften wir beispielsweise Hand in Hand gehen? Nein, das war nach Jannys Ansicht nicht erlaubt, aber da lungerten viele Deutsche herum, und: »Es ist doch besser, wenn sie denken, daß wir Freund und Freundin sind«, sagte sie, »denn sonst kommt so ein Blödmann vielleicht noch hinter uns her.« Wenn wir jedoch wegen der Deutschen Hand in Hand am Wasser entlanggelaufen waren, war dies so selbstverständlich geworden, daß wir auch im Hoekse Wäldchen, wohin nie Deutsche kamen, Hand in Hand gingen.
Wenn ich an die merkwürdige Sommeridylle zurückdenke, scheint es mir, als wäre diese unvollendete Liebe, wie brav sie auch immer gewesen sein mochte, vollkommen gewesen. Weil es keine Fortsetzung geben konnte, keine Entwicklung, blieb alles unbelastet, gab es auch keine Enttäuschung, keine Vorwürfe, erhoben wir keinen Anspruch aufe inander. Es war wie das Stimmen eines großen Orchesters, bevor das Konzert beginnt. Manchmal entsteht dann - aus Zufall? - ein diffuser, aber wunderbarer Orchesterklang, der alles zu übertreffen scheint, was es danach an strukturiertem Klang zu hören gibt. Oft habe ich gedacht, daß ich dieses Stimmen in eine Komposition einfangen möchte, aber, genau betrachtet, ist das unmöglich: Es ist gerade das vollendet Zufällige, diese einsame Oboe, die ihr A bläst, und all die Instrumente, die dann vor sich hin spielen, die diesen einen Moment hervorrufen, wenn sich alles auf einmal zu einem Akkord verdichtet, auf den man selbst nie gekommen wäre. Ich erinnere mich noch gut, daß Janny und ich am Ende eines solchen glühenden Strandtags, noch taumelig von all der Sonne, auf dem Weg nach Hause beim Staelduynse Wald abstiegen und unter den kühlen, ehrfurchtgebietenden alten Bäumen des Strandwäldchens auf den stillen Pfaden schweigend nebeneinanderhergingen. Ein braunes Eichhörnchen folgte uns in den
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