Das Wüten der ganzen Welt
Baumkronen. Keckernd lief es über die Äste. Manchmal sprang es von einer Baumkrone zur anderen, und es war, als wollte es den ganzen Wald mit allen seinen Bewohnern darauf aufmerksam machen, daß wir dort gingen, Janny in schwarzen Sandaletten mit hohen Hacken, ich in meinen ausgetretenen Turnschuhen, die meine Mutter stolz aus einem Haufen Lumpen herausgefischt hatte.
»Seht doch, wie sie dort schweigend laufen, auf vollendete Art glücklich, ohne daß sie selber es wissen. Seht doch, wie unschuldig sie sind, wie jungfräulich, wie arglos.« So liefen wir durch das briefmarkengroße Wäldchen, und irgendwo an einer Weggabelung, in deren Mitte eine Silberpappel stand, lächelten wir uns an, schauten uns verlegen in die Augen und erröteten beide über und über.
Von mir aus hätte es immer so bleiben dürfen, so unfertig, so »noch nicht«, aber Ende August feierte die älteste, ewig warnende Schwester ihren Geburtstag. Natürlich lud Janny mich nicht ein, gemeinsam mit ihr, bei keizerbitter (Eine Art Magenbitter. (Anm. d. Übers.)), boerenjongens oder einem Advokaat den Abend in einem verrauchten Wohnzimmer mit Dutzenden von Robbemonds zu verbringen, dennoch fragte sie mich, ob ich sie um zehn Uhr von der Weverskade abholen würde, um sie nach Hause zu bringen. Als ich Punkt zehn Uhr dort ankam, wartete sie schon auf der kleinen Brücke, die von der Kade zum Deichaufgang führte. Ich war mit dem Fahrrad gekommen, sie war zu Fuß, aber sie wollte sich nicht auf den Gepäckträger setzen. Sie wollte laufen, »denn so weit ist es ja gar nicht«, sagte sie. Wir stiegen auf den Deich und gingen eine Zeitlang wortlos nebeneinanderher. Rechts von uns erstreckte sich endlos weit das von Rotterdamer Hafenschlick angespülte Land, auf dem, soweit das Auge reichte, das Sumpfaschenkraut blühte. Es war ein unglaublicher Anblick, dieses gelbe, im Abendwind sich wiegende Blütenmeer. Viele der Blumen waren schon verblüht, und der Abendwind blies Tausende von Blütenflöckchen über den Deich. Während wir gingen, waren wir allmählich ganz und gar von diesen weißen Flöckchen bedeckt. Sogar Jannys rotes Haar wurde, während wir ruhig weitergingen, allmählich grau.
Sie lief erst neben mir, aber schon nach hundert Metern rannte sie auf einmal los, lief quer hinüber auf die andere Seite des Deichs und wartete, bis ich sie mit dem Fahrrad an der Hand eingeholt hatte. Das Fahrrad war nun durch ihr Manöver zwischen uns. Es hielt einige Flöckchen ab, aber viele blieben dennoch an ihrem Sommermantel haften.
»Das geht nicht«, rief sie plötzlich, »das geht überhaupt nicht.«
»Was geht nicht?« fragte ich.
»Was wir tun... das dürfen wir nicht, wenn Herman das wüßte, würde er wütend sein, ich weiß nicht... du... du hast mich zum Strand mitgenommen... Ich muß die ganze Zeit an Herman denken, dann sehe ich ihn vor mir, wie er lacht, oh, ich vermisse ihn so, ich wollte, er wäre hier.«
»Er kommt doch schon bald aus Deutschland zurück?«
»Ja, Gott sei Dank. Oh, was haben wir bloß gemacht, daß es soweit hat kommen können.«
»Es ist nichts passiert«, sagte ich.
»Wir sind am Strand gewesen«, sagte sie, »wir sind dauernd am Strand gewesen, den ganzen Sommer über.«
»Du wolltest es.«
»Ich? Schiebst du mir die Schuld in die Schuhe? Du wolltest immer... oh, ich vermisse ihn so, ich wollte, er wäre hier.«
Wir erreichten die Reegkade. Auf der Kircheninsel glänzten gelbe Lampen. Die Luft war noch warm und feucht, aber dennoch fröstelte ich.
»Was haben wir bloß gemacht?« sagte sie noch einmal.
»Wir sind ab und zu mit dem Fahrrad zum Strand gefahren«, sagte ich, »weiter nichts.«
»Weiter nichts? Und was ist mit dem Staelduynse Wald? Ich kann Herman doch nicht im Stich lassen. Er liebt mich so sehr, und ich liebe ihn auch so sehr. Ich muß immer daran denken, wie er lacht... und dann sehe ich sein Gesicht vor mir... oh, ich werde verrückt davon, das geht nicht, das geht wirklich nicht, wir müssen... wir können...«
»Es ist schon Ende August, ich glaube nicht, daß wir noch oft Strandwetter haben werden.«
»Und selbst wenn Strandwetter wäre, wir gehen nicht mehr dorthin, kommt gar nicht in Frage. Oh, warum haben wir das getan, immer und immer wieder? Wie soll ich Herman unter die Augen treten?«
»Ja, aber es ist doch gar nichts passiert?«
»Das hätte noch gefehlt!«
Sie blieb stehen, griff nach meinem Fahrrad, so daß auch dies abrupt stillstand, und sagte: »Herman und ich sind
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