Das Wunder des Pfirsichgartens: Roman (German Edition)
Gespenster gestreut und jedes Kind und nahezu alle Erwachsenen dazu gebracht hatte, Angst vor dem Madam zu haben; all die Jahre, in denen sie zugesehen hatte, wie das Haus verfiel, Jahr für Jahr immer weiter; in denen sie darauf gewartet hatte, dass es endlich zusammenbrach und alles, was dort passiert war, verschwand. All diese Jahre waren umsonst gewesen.
Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, plante Paxton jetzt auch noch eine große Gala an jenem Ort, um die Gründung des Damenklubs zu feiern. Agatha hatte alles versucht, um Paxton dieses Vorhaben auszureden und sie dazu zu bringen, die Feier abzusagen. Sie hatte schlimme Sachen gesagt, die sie nicht so meinte, und Drohungen ausgestoßen, die sie nicht in die Tat umsetzen konnte. Aber nichts hatte geholfen. Jetzt leitete Paxton den Klub, und Agatha wurde schmerzhaft bewusst, dass sie keine Macht mehr besaß.
Diese törichten jungen Frauen wussten nicht, was sie da feierten. Sie hatten keine Ahnung, was Agatha und ihre Freundinnen vor fünfundsiebzig Jahren zusammengebracht hatte. Im Damenklub war es darum gegangen, sich zusammenzuscharen, sich zu unterstützen und einander zu beschützen, weil es kein anderer tat. Aber der Klub hatte sich in ein hässliches Monstrum verwandelt, ein Mittel, das es den reichen Damen ermöglichte, sich gegenseitig zu beglückwünschen, weil sie den Armen Geld gaben. Und Agatha hatte es zugelassen. Ihr war, als würde sie ihr Leben lang Wiedergutmachung leisten müssen für Dinge, die sie hatte geschehen lassen.
Es war kein Zufall, dass der Klub im Madam feiern wollte. Das wusste sie ganz genau. Es gab keine Zufälle. Es war Schicksal. Objektiv betrachtet wies es sogar eine grausame Logik auf. Der Anlass für die Gründung des Klubs hatte mit dem Madam zu tun gehabt. Jetzt war es nur eine Frage der Zeit, bis alles ans Licht kam. Geheimnisse bleiben nie in ihrer Versenkung, egal, wie sehr man sich darum bemüht. Davor hatte Georgie immer Angst gehabt.
Sie stand auf, trat hinaus auf den Flur und zählte die Schritte bis zum Schwesternzimmer. Als sie sich dem Raum näherte, hörte sie die Stimme der Pflegerin, die die Frühschicht übernommen hatte. Die Frau war jung. Viel zu jung. Sie klang, als wollte sie mit ihren besten Freundinnen Kästchenhüpfen spielen. Warum hatten es junge Mädchen so eilig, erwachsen zu werden? Das würde Agatha nie verstehen. Die Kindheit war eine magische Zeit, sie hinter sich zu lassen ein immenser Verlust.
»Hallo, Mrs Osgood«, sagte die Schwester, wobei sie sich vergeblich bemühte, freundlich zu klingen. Agatha rief bei allen Angestellten diese Haltung hervor. Sie war sich nicht sicher, wann es passiert war, aber irgendwann in den letzten zehn Jahren hatte sie herausgefunden, dass es ihr besser ging, wenn sie andere Leute dazu brachte, sich genau so schlecht zu fühlen, wie sie sich selbst fühlte. Agatha vermutete, dass die junge Pflegerin ihr Gebiss heute Morgen im Bad versteckt hatte, wo der schicke Mann es fand. Einstecken und austeilen – dieses Spiel trieb sie mit der Belegschaft des Heims nun schon seit geraumer Zeit. »Was kann ich für Sie tun?«
»Wenn ich Ihre Hilfe brauche, bitte ich Sie darum«, fauchte Agatha und ging an ihr vorbei. Sie lief bis zum dritten Gang. Mit ihren papierdünnen Fingerspitzen fuhr sie an den Wänden entlang, während sie die Türen bis zu Georgie Jacksons Zimmer abzählte. Als Georgies Sohn Ham zu ihr gekommen war und sie um Hilfe gebeten hatte, damit Georgie einen Platz in diesem Heim bekam, hatte Agatha ihm ohne zu zögern das Geld überreicht. Ihr Leben lang hatte sie Georgie helfen wollen, um das eine Mal wettzumachen, als Georgie sie am dringendsten gebraucht hätte und Agatha ihr den Rücken zugekehrt hatte. Das eine Mal, das alles verändert hatte. Agatha ließ sich berichten, wie Georgie hier behandelt wurde, aber sie besuchte sie nur selten. Georgie hätte es nicht gefallen. Sie hätte gesagt: »Du stehst auf deiner Seite, ich auf meiner. So und nicht anders muss es von nun an sein.«
Als sie die Tür öffnete, konnte sie nur eine dunkle Form erkennen, um die die hereinfallende Morgensonne einen Strahlenkranz bildete. Georgie sah aus wie ein Loch, in das Agatha zu stürzen drohte.
Agatha trauerte um viele Dinge, die sie verloren hatte, aber in letzter Zeit schmerzte sie ein Verlust ganz besonders – der Verlust der Freundschaft. Sie vermisste ihr Augenlicht. Sie vermisste ihren Ehemann. Sie vermisste ihren Vater und ihre Mutter. Aber
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