Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
Faible für diese Stoffe.«
Jaeger führte Berit und Gina durch einen hellen Flur, von dem Türen in verschiedene Räume abgingen. Die Freundinnen erhaschten im Vorübergehen einen Blick in einen Computerraum, in dem sich Kalle die Glatze und ein ebenfalls spärlich behaarter Freund mit einem Computerspiel vergnügten.
»Die Tür muss offen bleiben«, meinte Jaeger. »Dann trauen sie sich nicht auf Pornoseiten oder Seiten mit Nazi-Propaganda. Vor allem Letzteres ist verboten. Über ein paar nackte Mädchen sehe ich schon mal hinweg. Außerdem darf nur an den Computer, wer an der wöchentlichen Computer-AG bei mir teilnimmt.« Aus einem der nächsten Räume drangen unmelodische Klänge einer Möchtegern-Rockband, aus einem anderen Kinderlieder. »Ganz strenge Anwesenheitspflicht. Wer mittwochs nicht lernt, darf den Rest der Woche nicht spielen. So einfach ist das.«
Gina und Berit waren beeindruckt. Jaeger schien die Grauenfelser Jugend fest im Griff zu haben.
Am Ende des Flurs öffnete Jaeger die Tür zum Proberaum der Theatergruppe, einem Saal mit großen, hohen Fenstern und einer Bühne an der Frontseite. Darauf übte sich ein Junge gerade an einer Szene aus Don Carlos.
»Ich kann nicht Fürstendiener sein!«, donnerte er in den Saal und wedelte mit einem Plastikschwert. Berit fuhr zusammen. König Philipp hätte ihn für diesen Affront höchstwahrscheinlich enthaupten lassen.
»Du darfst ihm nicht drohen«, kritisierte eine Mädchenstimme aus dem Publikum. »Meine Güte, wenn Marquis Posa dem König so gekommen wäre, hätte er ihn köpfen lassen!«
Berit musste lachen. Die anderen Jugendlichen kicherten ebenfalls.
»Ach komm, König Philipp konnte was einstecken. Der brauchte mal ein bisschen Widerspruch«, verteidigte sich der Mime.
»Klar«, sagte das Mädchen. »Deshalb waren hinterher auch alle tot, die nicht seiner Meinung waren.«
»Wenn du immer alles besser weißt«, murrte der Knabe, »dann kannst du auch gleich weitermachen.« Verärgert räumte er die Bühne.
Das Mädchen ließ sich das nicht zweimal sagen. Selbstbewusst stieg es die Stufen hinauf. Berit und Gina registrierten eine schlanke, geschmeidige Figur in schwarzer Jeans und dunkelblauem ausgefranstem Batik-T-Shirt. Anscheinend konnte sich das Mädchen nicht ganz zwischen Punk- und Hippielook entscheiden. Sein Gesicht war blass geschminkt, die Augen rötlich umrandet, der Lippenstift fast schwarz. Ihr ursprünglich wohl blondes Haar hatte Claudia mit grünen und rosa Streifen versehen und mit Gel zu einer abenteuerlichen Irokesenvariante hochgestylt.
»Das ist sie?«, fragte Gina zweifelnd.
Jaeger nickte. »Gewaschen und gekämmt sieht sie aber ganz anders aus«, grinste er.
Claudia war an sich eher klein, doch als sie sich nun in Positur warf, schien sie um zwanzig Zentimeter zu wachsen.
»Ich bin Lady Macbeth«, erklärte sie und ließ den Blick über ihr Publikum schweifen. Wenn sie Pastor Jaeger und seineGäste im hinteren Bereich des Raums erkannte, ließ sie sich das zumindest nicht anmerken. »Und ich habe gerade erfahren, dass meinem Mann die Würde des Herzogs von Glamis verliehen wurde. Aber dabei soll es nicht bleiben. Nicht, wenn’s nach mir geht. Und es geht immer nach mir.«
Nach diesen einführenden Worten begann sie den Shakespeare’schen Monolog.
»Glamis bist du, und Cawdor. Und du sollst werden, was dir verheißen ward …«
Claudias Stimme war hell und schneidend. Sie drückte den Ehrgeiz und die vollkommene Skrupellosigkeit der Lady aus – und irgendwo auch die Verachtung, die sie gegenüber ihrem eher schwachen Gatten empfand.
Nach wenigen Sätzen konnten Berit und Gina Pastor Jaeger nur Recht geben. Dieses Mädchen war ein Ausnahmetalent. Und es schien zu wissen, was es wollte.
»Na, was sagen Sie?«, wisperte Jaeger seinen Gästen gespannt zu.
»Ich hatte mir unsere Seherin etwas – hm – sanfter vorgestellt«, meinte Gina.
»Oh, das kann sie auch sein. Sie sollten ihre Sandy sehen. Ein Püppchen, ganz brave Tochter. Und bei der letzten großen Aufführung zu Weihnachten hat sie mit Marco, dem Posa von eben, Romeo und Julia gemacht. Zum Dahinschmelzen«, schwärmte Jaeger.
Claudia auf der Bühne hatte jetzt erst mal geendet. Die Zuschauer applaudierten, ohne groß Kritik zu üben. Claudia war aber noch nicht fertig.
»So, dann jetzt noch mal auf Englisch«, sagte sie bestimmt und hörte über das Murren im Zuschauerraum hinweg.
»Glamis thou art, and Cawdor …«
Berit und Gina sahen sich
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