Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
»Solche Tanz-Internate gibt es hier auch. Ich glaube, eins ist in Stuttgart. Aber Paris wäre in Ordnung, wenn Sophie dort vortanzen darf. Wo können wir deine Freundin treffen? Am besten sogar gleich jetzt?«
Claudia schüttelte den Kopf. »Jetzt geht’s nicht, jetzt hat sie Unterricht. Aber in einer Stunde oder so, in der Tanzschule in Tatenbeck. Wenn sie allein trainiert, können wir sie stören, aber nicht während der Ballettstunde. Sie hat ohnehin nur zweimal Unterricht die Woche. Wenn wir da reinplatzen, wird sie fuchsteufelswild. Wie wär’s, wenn wir uns hier treffen und dann nach Tatenbeck fahren? So etwa um fünf. Bis dahin hab ich mir auch die Haare umgefärbt.«
Berit, entschieden die Modebewusstere von BeGin, warf einen Blick auf das Ergebnis von Claudias letzter Färbeaktion und schüttelte sich. Dann griff sie in ihre Handtasche und holte einen Hundertmarkschein heraus. »Geh zum Friseur«, sagte Berit.
Eine Stunde später war Claudia wieder da. Berit und Gina mussten allerdings zweimal hinsehen, bevor sie das Mädchen erkannten. Claudias Haar fiel weich in einem halblangen, leicht nach innen geföhnten Bob. Es war satt goldblond getönt – oder vielleicht auch wieder in seinen Naturzustand versetzt. Ein himmelblaues Haarband hielt es aus dem klaren, ungeschminkten Gesicht des Mädchens. Claudias große Augen, bisher ganz von dem fürchterlichen Make-up beherrscht, strahlten in unschuldigem Babyblau. Außerdem hatte sie die Röhrenhosen in saubere, hellblaue Jeans getauscht und eine weiße Bluse übergezogen. Ein ordentliches dunkelblaues Sweatshirt vervollständigte das Bild.
»Da sagst du, es gäbe keine Wunder«, bemerkte Gina zu Berit, als sie die Sprache wiederfand. »Das Outfit ist perfekt, Claudia. Sowohl für die Sandy als auch für die Sehergeschichte.«
»Das Outfit ist fast zu perfekt«, meinte Berit. »Da fehlt ja nur noch der Heiligenschein. Also ein bisschen frecher darfst du schon wirken. Aber die Richtung stimmt. Glaubst du, deine Freundin würde sich auch so stylen?«
Claudia lachte. »Muss sie gar nicht. Sophie sieht immer so lieb aus. Kommen Sie, der Ballettunterricht ist gleich zu Ende.«
Der Weg zur Tanz- und Musikschule führte über einen düsteren Hof im Industrieviertel von Tatenbeck, einem ähnlich traurigen Ort wie Grauenfels. Dank der Tierverwertungsfabrik lag zudem ständig ein schwerer, süßlicher Geruch über der Stadt. In manchen Ortsteilen von Grauenfels war der ebenfalls wahrzunehmen, aber längst nicht so penetrant wie im Nachbarort. Die Treppe hinauf zum Tanzstudio war schäbig und schien einsturzgefährdet. Der Hausflur wirkte düster und stickig. In der Wohnung unter der Tanzschule tobte anscheinend ein Ehestreit. Zumindest brüllten sich eine Frau und ein Mann in einer nicht identifizierbaren Sprache an. Beritund Gina folgten Claudia durch einen muffigen Korridor. Aus den Garderoben rechts und links des Flurs drangen Mädchenstimmen. Offensichtlich hatte die Ballettstunde erst kurz zuvor geendet. Claudia warf jedoch keinen Blick in die Umkleideräume. Sie steuerte zielsicher einem halbdunklen Proberaum am Ende des Ganges zu, in dem ein Mädchen einsam vor dem Spiegel Pliés übte.
Das zierliche, dunkelhaarige Kind bemerkte das Eintreten der drei nicht, ebenso wenig wie es auf den Lärm in den Umkleiden reagierte. Sophie hörte allenfalls die blecherne, aus einem Kassettenrekorder plätschernde Klaviermusik und sah allein ihr Bild im Spiegel. Damit schien sie jedoch unzufrieden zu sein. Jedenfalls führte sie die Übung immer wieder aus und feilte an jeder winzigsten Variante. Die Betrachterinnen vermochten allerdings kaum Unterschiede zu erkennen. Jede einzelne Bewegung des elfenhaften Mädchens war von perfekter Anmut. Die kleine Tänzerin schien überhaupt einer Märchenwelt entstiegen zu sein: ein Fleisch gewordenes Schneewittchen mit schneeweißer Haut, riesigen dunklen Augen, das volle, dunkelbraune Haar zu einem Zopf geflochten, der ihm fast bis zur Hüfte hing. Sophie war klein und dünn. Wenn sie erwachsen war, würde sie sicher die optimale Ballettfigur entwickeln. Sie trug einen verschlissenen Tüllrock über einem schwarzen Probentrikot.
»Bernadette wie sie leibt und lebt«, flüsterte Berit Gina zu.
»Eher so, wie Hollywood sich Bernadette vorstellen würde«, schränkte Gina ein. »Die echte war allenfalls Durchschnitt.«
Sophie hatte sich jetzt von der Stange gelöst und begann vor dem Spiegel zu tanzen. Gina und Berit waren
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