Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
Clarsen schluchzte haltlos.
Gina legte den Arm um sie. »Ich seh hier weit und breit keine Jungfrau«, sagte sie sanft, »nur ganz erwachsene Frauen, die über so was reden können. Während ›die Tür‹ und ›die Treppe‹ doch eher männlich waren, oder?«
Frau Clarsen nickte. »Mein Mann. Er ist eigentlich nicht schlecht, aber wenn er was getrunken hat … Und er ist so reizbar, nichts kann ich ihm recht machen. Und der Junge, mein Michi … Gestern war er so aufgedreht nach dem Zirkusbesuch und wollte nicht ins Bett. Da hat ihn Raimund … ich bin natürlich dazwischengegangen, und Michi konnte dann auch weglaufen. Aber irgendwann – irgendwann schlägt er mich tot, und was wird dann aus dem Kleinen?«
»Frau Clarsen – Sybille, nicht? –, das können Sie nicht zulassen! Sie müssen den Kerl verlassen. Und anzeigen! Gibt es hier nicht ein Frauenhaus, wo Sie mit Ihrem Jungen hinkönnen?« Gina streichelte den Rücken der immer noch schluchzenden Frau.
»Doch. In Vierenhausen. Aber das geht nicht, da kann ich nicht hin. Wenn ich das mache, dann dreht die ganze Familie durch. Raimund soll doch den Betrieb übernehmen, die Reparaturwerkstatt von meinem Vater, die läuft ganz gut. Und die zwei verstehen sich auch erstklassig. Mein Vater …«
»Ihr Vater billigt das?«, fragte Gina ungläubig und wies auf Sybilles Gesicht.
»Na ja, nicht direkt, aber er meint, Streit gäb’s in jeder Ehe und wir müssten uns eben beide ein bisschen zusammennehmen. Aber ich nehme mich schon zusammen. Ich versuche wirklich alles, um – um lieb zu sein.« Sybille versuchte, dieTränen zu unterdrücken. »Ich komme auch gleich zur Arbeit. Ich brauchte nur gerade ein bisschen – ich dachte, ich fände hier ein bisschen Ruhe.«
Gina schluckte und reichte Frau Clarsen ein Taschentuch. »Sybille, ›lieb sein‹ gehört nicht zu Ihren Pflichten. Sie sind doch kein Zirkuspony! Und ruhig sein müssen Sie auch nicht. Im Gegenteil: Sie müssen schreien! Von selbst ändert sich so was nicht. Es wird höchstens schlimmer. Wenn Sie jetzt schon befürchten, Ihr Mann könnte Sie umbringen …«,
»Das war übertrieben …«, murmelte Sybille.
Gina verdrehte die Augen. »Sieht aber nicht so aus. Wenn der Schlag gegen die Lippe die Schläfe getroffen hätte – ich weiß ja nicht. Und Sie sind mit Sicherheit gefallen. Beim nächsten Mal könnten Sie mit dem Hinterkopf auf einer Tischkante landen.«
Sybille weinte wieder. »Aber mein Vater hat uns das Haus schon überschrieben. Und in der Werkstatt ist Raimund auch Teilhaber. Das kann ich nicht kaputtmachen.«
»Aber der Kerl kann Sie kaputtmachen?«, regte sich Gina auf. »Da würde ich lieber auf den ganzen Klumpatsch verzichten und mit meinem Kind irgendwo anders neu anfangen. Überlegen Sie sich das! Und bei der Sache mit dem Haus und der Werkstatt ist vielleicht auch noch was zu machen. Sie brauchen einen Anwalt!«
Frau Clarsen schüttelte den Kopf. »Ich brauche ein Wunder«, flüsterte sie. »Haben Sie zufällig so was wie einen Rosenkranz? Und wissen Sie, wie man ihn betet?«
Gina war einigermaßen aufgewühlt und völlig durchnässt, als sie zurück ins Büro kam. Sie trocknete ihr Haar mit einem Händehandtuch und suchte nach einem Haargummi. Dabei erzählte sie Berit von Frau Clarsen.
»Die Frau muss mal raus«, urteilte Berit. »Verreisen oder so. Damit sie ein bisschen Abstand kriegt. Mit ihrer reizendenFamilie um sich rum, die ihr an allem die Schuld gibt, wird das nie was. Können wir da nicht irgendwas arrangieren? Dienstreise nach Fátima oder so, bisschen Wallfahrt, viel Meer?«
»Barhaupt wird dich für verrückt erklären. Aber mir fällt was anderes ein. Hast du noch die Telefonnummer von Chrissie, die das mit den Gewinnspielen für OLAF organisiert?«
OLAF war eine große Werbe- und Eventagentur, die sich unter anderem auf die Durchführung von Preisausschreiben spezialisiert hatte. Ihre Mitarbeiter sorgten dafür, dass rechtliche Bestimmungen eingehalten wurden, suchten nach den günstigsten Angeboten für attraktive Preise und Kombination verschiedener Werbekampagnen.
So stellten zum Beispiel Reiseanbieter oder andere Firmen Gewinne für die Preisausschreiben in Frauenzeitschriften zur Verfügung. Im Gegenzug berichtete die Zeitschrift im redaktionellen Teil über die Angebote der Firmen. Zuletzt übernahm die Agentur die gesamte Durchführung des Gewinnspiels, vom Öffnen der Post bis zur Verlosung der Preise.
Christine Hollander, eine alte Bekannte von
Weitere Kostenlose Bücher