Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
großen Houdini, außerdem zersägte er das Faultier, das die Zuschauer bereits in der Seiltanznummer beklatscht hatten. Doch weder Seiltanz noch Zersägen schienen das Tier zu beeindrucken.
Die Zuschauer reagierten mit Begeisterungsstürmen, als das gemütliche Vieh sich mit neuen Blättern versorgte, indem es sie hinter dem Ohr des Meisters hervorzog.
»Das Ziel der Dressur ist, dass er eines Tages alles allein macht und ich in Ruhe am Seil hängen kann …«, kommentierte Merlot.
»Also, wie fandet ihr ihn?«, fragte Gina, als die vier schließlich den Zirkus verließen.
»Genial«, urteilte Claudia und kramte nach ihrem Handy, das Anrufe neuerdings mit den ersten Tönen von Like a virgin meldete. Berit versuchte, das mit Fassung zu tragen. »SMS von Sophie, sie holt Bernie im Büro ab. Kann ich ihr gleich erzählen, wie geil der Typ war! Wollt ihr den für die MM-Sache engagieren?«
»Jedenfalls war er originell«, meinte Berit vorsichtig. »Und scheint fachlich auch was zu können – mir ein völliges Rätsel, wo der Tiger und die Frau hin sind! Mal abgesehen von dem zerlegten Affen.«
»Faultiere sind keine Affen!«, berichtigte Claudia sie.
»Was auch immer sie sind, das war schon gut! Ich denke, wir merken uns den Typen vor, oder, Gina?«
Gina nickte. »Aber jetzt steigen erst mal die Persönlichkeitstests. Seid ihr aufgeregt, Claudia?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nö, nicht wirklich.Meine Mutter hatte auch mal so eine Testphase, da hat sie so ziemlich stündlich einen IQ-Test mit mir gemacht. Zum Schluss war ich richtig gut. Und sonst … wir werden der Psychotante schon das Richtige erzählen.«
»Ihr dürft vor allem nicht lügen«, meinte Berit. »Das merkt sie, es gibt Tricks, das rauszufinden. Gebt euch einfach, wie ihr seid: ganz normale, geistig gesunde und glaubwürdige Mädchen …«
»… denen nur zufällig die Madonna erscheint. Ist gebongt.« Claudia lachte, zog dann allerdings die Stirn kraus. »Aber da wir gerade über meine Mutter sprechen: Die ist neuerdings erstaunlich ruhig, ich fürchte, sie brütet was aus.«
»Was soll sie denn ausbrüten?«, fragte Gina sorglos.
»Weiß ich nicht. Aber es ist komisch. Sie sagt gar nichts mehr, wenn ich zum Beten in den Steinbruch gehe …« Claudia nahm ihre Rolle sehr ernst und ließ sich zum Entzücken der Pilger fast täglich an der Quelle sehen. Die Versunkenheit in ihr Gebetbuch wirkte auch äußerst echt – dahinter verbarg sich allerdings meist ein Schulbuch. Claudias Englischkenntnisse verbesserten sich sprunghaft.
»… Sie hat sogar den Tests zugestimmt – und sie informiert sich über Marienerscheinungen! Hoffentlich guckt diese kirchliche Prüfungskommission nicht in unseren Computer. Das wäre eine Katastrophe, meine Mom hat alles runtergeladen, was das Internet hergab. Die kann die Prophezeiungen von Fátima bald auswendig herbeten.«
»Du meinst – sie verwandelt sich in so eine Art ›Eislaufmutti‹ in Sachen ›Wunder‹?«, fragte Berit entsetzt.
»Ausgeschlossen war’s nicht. Sie kann sich in Sachen total reinsteigern. Wenn sie was macht, dann richtig. Als sie den Tick mit den IQ-Tests hatte, sollte ich unbedingt als jüngstes Mitglied in den Mensa-Club.«
»Warum coacht sie dann nicht auch deine Schauspielerei?«, erkundigte sich Gina.
Claudia verdrehte die Augen. »Na, erstens, weil das meine Idee war und nicht ihre. Das kann sie nicht gut haben, sie möchte immer selbst bestimmen, was ich mache. Und dann hat sie auch mal eine Biografie von Elizabeth Taylor gelesen – und da wurde die Mutter wohl als ziemliches Monster dargestellt. Das hat ihr zu denken gegeben. Außerdem erzähl ich ihr immer nur die Hälfte. Bei Grease glaubte sie, ich wäre die zweite Besetzung, die nur zufällig an die Hauptrolle geraten ist. Und dafür, meinte sie, hätte ich es wirklich ›ganz nett‹ gemacht.«
»Dann hat sie aber nicht den Schatten einer Ahnung von Schauspielerei!«, meinte Berit.
Claudia zuckte die Schultern. »Hat sie auch nicht. Aber ihr solltet sie mal reden hören! Auf jeden Fall benimmt sie sich komisch. Wir müssen sie dringend von der Kirchenkommission fern halten.«
*
Am nächsten Tag war nicht nur der Psycho-Test für die Seherkinder geplant, sondern auch Berits Termin mit Ruben Lennart von der Lupe. Der Reporter befand sich seit Dienstag auf einer Rundreise durch die neuen Länder. Er würde am späten Nachmittag kommen und in Grauenfels übernachten. Gina fiel auf, dass Berit sorgfältig
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