Das Wunder von Treviso
überhaupt, unter Leuten zu sein, und sie genoss die Gesellschaft Luigis und seine Aufmerksamkeit, denn es hatte sich schon sehr lange kein Mann mehr um sie gekümmert.
Sie hatte früh geheiratet und ihren Mann auch sehr früh wieder verloren. Das war in den 1960er Jahren gewesen. Sie hatte getrauert, sie hatte geklagt, aber nach einer Weile hatte sie beschlossen, sich ihrem gemeinsamen Sohn zu widmen, den sie Antonio, nach ihrem Bruder, genannt hatten, und er machte ihr gleichermaßen Freude, wie er für Aufregung in Marias Leben sorgte. Ob schulische Probleme oder Kinderkrankheiten, immer nahm sie es hin als einen Teil ihres Lebens, in dem Antonio der Mittelpunkt war. Daran hätte sich nie etwas ändern sollen.
Antonio starb bei einem Unfall mit seinem Moped,da war er gerade achtzehn Jahre alt. Maria starb mit ihm. Sie hörte auf zu lachen, sie hörte auch irgendwann auf zu weinen, und letztlich hörte sie auf zu essen, sich zu waschen und an die Luft zu gehen. Ihre Familie kümmerte sich, man redete ihr gut zu, was Maria nicht half, ihre Familie aber beruhigte. Sie hatten ein schlechtes Gewissen – Mann Krebs, Sohn Unfalltod, was konnte man der Armen noch Gutes tun?
Maria aber wollte nicht, dass man ihr Gutes tat. Sie wollte die Trauer und den Schmerz, es war die Verbindung zu ihrem Sohn. Sie wollte sich aufgeben können. Doch nach einigen Wochen bemerkte sie, dass sie nicht den Mut hatte, sich umzubringen, und begann langsam wieder zu essen. Sie wusch sich das Haar und das Gesicht und ging einkaufen. Sie kochte. Sie aß. Sie schlief. Es wurde nie wieder gut, es wurde nur anders.
Nach Monaten kam plötzlich das Lachen zurück, eines Abends beim Fernsehen, eine billige amerikanische Komödie, und Maria wunderte sich selbst, dass sie es konnte. Sie begann, alte Freunde zu besuchen, sich um ihre Familie zu kümmern, und war eine fürsorgliche Tante, Schwester und Schwägerin. Letztlich zog sie sogar in ein Zimmer ins Haus ihrer Schwester in Castello. Es wurde nie ein Zuhause daraus, aber sie war gern dort. Bis zu diesen Tagen, in denen sie bemerkte, dass sie bleiben wollte, hier, in Treviso. Also blieb sie.
13
Salvatore Tarlo hatte ein Problem: Er bekam keine Anerkennung für seine Arbeit. Der Pater hatte zwar mehrfach betont, wie «unglaublich» er den von ihm entwickelten Mechanismus fand, wobei er niemals die Worte «gut» oder gar «hervorragend» benutzte, aber das war dann auch schon alles. Und obgleich das ganze Dorf rätselte, wie der Pater es angestellt hatte, die Madonna zum Weinen zu bringen, kamen doch nur wenige auf die Idee, Salvatore Tarlo hinter dem Wunder von Treviso zu vermuten, und hüteten sich erst recht davor, ihn darauf anzusprechen. Das tat seinem Ego alles andere als gut, denn Salvatore brauchte, so wie jeder andere Mensch auch, von Zeit zu Zeit ein wenig Lob. Es gab nur wenige Menschen, die verstehen würden, was für eine großartige technische Leistung hinter der weinenden Madonna stand, und natürlich war ihm auch bewusst, dass er sein Geheimnis für sich behalten musste, wollte er das ganze Unternehmen nicht gefährden.
Das Bedürfnis, sich mit jemand anderem, jemand Zugänglicherem als Don Antonio, darüber auszutauschen, wuchs von Tag zu Tag, und Salvatore ergriff die erstbeste Gelegenheit, die sich ihm dazu bot. Es gab nur eine Person, der er in dieser Hinsicht traute und die er für mindestens so verschwiegen hielt wie den Pater, wenn nicht gar für verschwiegener.
Wie jeden Samstag war Markttag, und wie jeden Samstag stand Salvatore mit seinen Madonnen, Delphinenund anderem Schnitzwerk auf dem Marktplatz von Treviso und sah dem Treiben zu, das nur selten bis zu seinem Stand vordrang. Irgendwann machte er es sich mit einer Zeitung gemütlich und las konzentriert die Sportnachrichten, als Maria plötzlich vor ihm stand, mit einer Tüte Zucchini im Arm.
«Ich wollte mich noch einmal für Ihre ausgezeichnete Arbeit bedanken. Die Tür funktioniert hervorragend. Es ist fast ein Wunder, was Sie daraus gemacht haben.» Sie lächelte.
Salvatore blickte auf. «Das freut mich, Signora. Ich hab mir alle Mühe gegeben.» Und er lächelte immer noch, als er sich sagen hörte: «Wunder sind mein Metier!»
Wenn Maria es nicht schon vorher geahnt hatte, dann wusste sie jetzt ganz sicher, wessen Hilfe sich ihr findiger Bruder bedient hatte, und es überkam sie ein Gefühl der Bewunderung und Zuneigung für Antonio, wie sie es schon seit Jahrzehnten nicht empfunden hatte. Was war er
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