Das Wunder von Treviso
einzigen öffentlichen Toilette Trevisos ab, doch er konnte es seinem Onkel nicht recht machen. Das eine Mal wollte dieser eine Großaufnahme von sich und dem Brunnen, was unmöglich war, denn entweder waren Mario oder der Brunnen groß auf dem Bild zu sehen – beides zusammen überstieg Giorgios Fähigkeiten als Fotograf bei weitem. Das andere Mal verlangte der Bürgermeister ein künstlerisch anspruchsvolles Bild desPissoirs, was wiederum die Möglichkeiten des Pissoirs überstieg, denn es war ein Betonbau aus den späten 1970er Jahren.
Die drei Zuschauer aber saßen seelenruhig auf ihren Stühlen und hatten einen Heidenspaß an dem Spektakel, das der Bürgermeister, der wie eine fette Rennmaus über den Dorfplatz wetzte, veranstaltete.
«Giorgio kann einem wirklich leidtun», sagte Massimo. Doch trotz eines gewissen Mitleids, das die drei für den armen Giorgio hegten, amüsierten sie sich großartig und feuerten den Bürgermeister zwischendurch immer wieder an, sich in noch überschwänglicheren Posen an die alte Mauer links neben der Kirche zu lehnen und so «eins zu werden mit dem Stein», wie Mario es ausdrückte.
«Ja, Bürgermeister, zeig es uns! Werde eins mit dem Felsbrocken da!», krakeelte Vito, während dem armen Luigi vor Lachen schon die Tränen über die Wangen liefen und er nach Luft schnappte. Das hielt Mario aber nicht davon ab, mit seinem Auftritt fortzufahren, und er scheuchte Giorgio nur noch heftiger hin und her und war voll in seinem Element. Der Bürgermeister brüllte, Giorgio schwitzte, die Männer lachten. Genau in dem Moment bog Maria um die Ecke, und weil die ausgelassene Stimmung gerade ihren Höhepunkt erreichte und weil Massimo leider ein wenig taktvoller Mensch war, drehte er sich zu Luigi um, stieß ihn mit dem Ellbogen an und sagte: «Luigi, das ist die Gelegenheit! Frag doch mal den Starfotografen da, ob er nicht einschönes Hochzeitsfoto von euch zwei Hübschen machen will!»
Alle hatten es gehört. Luigi fühlte, wie sich Freude und Scham in seinem Inneren ausbreiteten, und ein Blick auf Maria genügte ihm, um zu wissen, dass es ihr ebenso erging. Was sollte er tun? Binnen eines Augenblicks entschied er, dass es an der Zeit war zu handeln. Er stand langsam von seinem Stuhl auf, holte tief Luft und ging zu Maria hinüber.
«Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?»
Maria, selbst vollkommen überrumpelt, lächelte und nickte ihm zu, woraufhin Luigi ihren linken Arm ergriff und zusammen mit seiner neuen Liebe die Trattoria betrat. Massimo riss sich von dem Schauspiel des immer noch posierenden Bürgermeisters los und folgte den beiden ins Lokal, wo Luigi und Maria eine knappe Stunde beinahe sprachlos einander gegenübersaßen, unendlich glücklich über die Gegenwart des anderen und nicht wissend, wie es weitergehen sollte.
Auf der Homepage von Treviso, die in der darauffolgenden Woche online war, fanden sich auffällig viele Fotos eines älteren Herrn im gutsitzenden Anzug, der in betont dynamischer Körperhaltung an einer Bedürfnisanstalt lehnte.
10
Auf dem Heimweg dachte der Supermarktbesitzer Vito darüber nach, was ihm sein Freund Massimo vor der Showeinlage des Bürgermeisters gesagt hatte: «Vito», hatte Massimo ihm geraten, «du solltest über eine Erweiterung deines Ladens nachdenken. Sehr bald schon werden unzählige Touristen nach Treviso kommen, um sich unser kleines Wunder anzusehen, und dann machen wir zwei das Geschäft unseres Lebens!» Und Vito war überzeugt, dass Massimo recht behalten würde.
Tatsächlich hatte Vito bereits vor drei Wochen eine Bestellung in Auftrag gegeben, die er nur mit Müh und Not vor seiner Frau hatte verbergen können, bis Anna gestern dahinterkam, dass er eine exorbitant hohe Summe für ein Produkt ausgegeben hatte, das die seltsame Artikelbezeichnung «weibl. Fig., Plast. lackiert» trug. Und da sie schon Unanständiges vermutete, musste er ihr gestehen, dass er dreitausendfünfhundert Stück einer Minimadonnenstatue aus Taiwan bestellt hatte – und so einiges mehr. Vito war eben Geschäftsmann, und als solcher hatte er ein gutes Gespür für die Bedürfnisse seiner Kunden.
Auch Massimo hatte sich auf den Ansturm von christlichen Pilgern in Treviso eingestellt, indem er den obersten Stock über seiner Trattoria in fünf kleine Gästezimmer umgebaut hatte, mit einem gemeinsamen Bad, in dem die Dusche tropfte, und einem gebrauchten Elektroboiler. Einwände seines Sohnes, dass etwasmehr Komfort vielleicht angebracht wäre,
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