Das Wunder von Treviso
war eine riesige Party. Es gab grünen Wackelpudding, aber keines der Kinder wollte ihn essen, weil Antonio ihnen erzählt hatte, dass er aus Fröschen gemacht war. Er wollte ihn ganz für sich allein haben … Und das hier, das hat er mir mal gebastelt.» Sie zog ein halbfertiges Boot aus Eisstielen hervor. «Es ist nicht rechtzeitig bis zu meinem Geburtstag fertig geworden, deswegen hat er furchtbar geweint. Und das hier …»
Es dauerte den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend. Maria erzählte von den vielen kleinen und großen Begebenheiten aus der gemeinsamen Zeit mit ihrem Sohn und ihrem Mann, und Luigi hörte ihr zu. Dann sprachen sie über Chiara und über die vielen schönen Dinge, die man zusammen mit seinen Liebsten erlebt hatte. Wie Maria sich darüber geärgert hatte, dass Antonio seine Schulsachen immer verlor. Wie lästig Chiaras Schnarchen war. Wie bezaubernd Antonio lächeln konnte. Wie gern er ihr schwarzes Kleid mit den weißen Tupfen hatte. Wie gut Marias Mann singen konnte und wie schlecht sie selbst. Wie gern man die Toten gekannt hätte. Wie froh man war, den anderen gefunden zu haben.
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Etwas hatte sich verändert. Die ausgelassene Goldgräberstimmung der letzten Wochen war einer Ernüchterung gewichen, die sich in langen Arbeitstagen und wenigen Ruhestunden messen ließ. Pilger mussten versorgt, verköstigt, manchmal verarztet, in jedem Fall aber spirituell betreut werden, und so langsam machte dies den Einwohnern von Treviso zu schaffen. Jeder, der auch nur ansatzweise am Sakraltourismus verdiente, war mit Arbeit überhäuft, und nachdem dieser Boom nun schon einige Monate lang anhielt, begann sich der eine oder andere zu fragen, wann er denn mal wieder Zeit für sich, für den Liebsten, für die Familie oder gar für so etwas wie ein Hobby finden würde.
Sicher, man nahm sich kurze Auszeiten, in denen man in der Trattoria aß oder trank und vielleicht mal mit dem Auto nach Vicenza fuhr, um dort einzukaufen oder ins Kino zu gehen. Die genussvolle Langeweile des trevisianischen Alltags aber war dahin, und nach der Freude über das viele Geld, das mit den Pilgern seinen Weg nach Treviso gefunden hatte, war man an einem Punkt angelangt, an dem man sich ausgelaugt fühlte. So erging es Vito und seiner Frau Anna, deren Supermarkt brummte, aber deren Konversation sich seit einigen Tagen nur noch auf das Nötigste beschränkte. Nicht einmal zum Streiten fanden sie noch Zeit. Und so erging es Massimo und seiner Familie mit ihrer Trattoria und dem neuen Pensionsbetrieb, denn zwischen Bettenmachen,Kochen und Abwasch blieb keine Zeit mehr für die ausgedehnten Unterhaltungen mit den Gästen. Sogar der Bürgermeister Mario war schon seit drei Wochen nicht dazu gekommen, seine Mutter anzurufen, denn über Pilgerbegrüßungen und Haushaltsplanung für das kommende Jahr hatte er sie einfach vergessen. Einzig Luigi weigerte sich, seinen Friseurladen für die Pilgerinnen mit Dauerwelle länger offen zu lassen als üblich, denn er wollte jede freie Minute mit Maria verbringen, was er auch tat.
Und dann war da der Ort selbst: die Parkplätze, die Busse, die vielen Informationsbroschürenständer – eine dieser Ideen des Bürgermeisters –, die Spruchbänder zur Begrüßung der Pilgertouristen, die Spruchbänder zur Verabschiedung der Pilgertouristen («Auf Wiedersehen in Treviso, dem Ort, an dem die Freudentränen fließen»): Nein, man war sich ganz und gar nicht sicher, ob einem die Veränderung nicht langsam zu viel wurde. Fast hätte man sich wünschen können, dass der vatikanische Abgesandte dem Treiben ein Ende gesetzt hätte. Aber der reiste am 1. Februar wieder ab, ohne dass er auch nur einen Kommentar zur weinenden Madonna verloren hätte. Selbst Bischof Santini wusste sich keinen Reim darauf zu machen. Lediglich das selbstgefällige Auftreten Don Antonios gab ihm zu denken.
So hätte die Geschichte enden können. Viele Menschen hatten gefunden, was sie suchten, ohne dass sie am Ende mit dem glücklich waren, was sie hatten. Ein Ort erhielt sein Leben zurück, der Bösewicht musstegehen, und die Liebe hatte gesiegt. Ja, so hätte es enden können – das tat es aber nicht.
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Liebster Giorgio,
mache gerade einen Sprachkurs in Budapest. Ich verstehe hier einfach gar nichts. Wer behauptet hat, Finnisch und Ungarisch hätten etwas miteinander gemein, dem ist nicht zu helfen. Wenigstens gibt es hier Dampfbäder, was bedeutet, dass wir Finnen mit den Ungarn immerhin eine Sache
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