Das Wunder von Treviso
vorbei.
9
«Das ist … Das ist einfach nicht möglich!», stotterte de Renzi.
«Wieso nicht? Aber wenn du darauf bestehst, kannst du mich gerne mit ein bisschen Weihwasser bespritzen und den Herrgott bemühen. Vielleicht fühlst du dich dann wohler.»
Francesco de Renzi war sich beinahe sicher, dass er halluzinierte. Wie konnte das sein? Vor ihm stand der Geist eines vor fünfundvierzig Jahren verstorbenen Pfarrers. Doch de Renzi war nicht der Einzige, der darüber mehr als nur erstaunt war. Hinter dem Geist Don Ignazios kam Don Antonio mit einer leeren Rotweinflasche in der Hand die Stufen von der Krypta in den Kirchenraum emporgestolpert.
«Wo willst du hin, alter Mann, ich war noch nicht fertig mit … Ach du heilige Scheiße!» Don Antonio sah die beiden Männer an. «Du?», brüllte er plötzlich de Renzi an. «
Du
kannst
ihn
sehen?» De Renzi wusste darauf nichts zu erwidern und nickte nur stumm. «Hau ab,das ist
mein
Geist!», donnerte Don Antonio, und weil er endlich die Chance gekommen sah, all seine Frustration, Ängste und Anstrengungen der letzten Monate an jemandem auszulassen, schrie er sich in Rage: «Das hier ist
meine
Kirche, verstehst du? MEINE! Und das ist
mein
Geist. Und
meine
Gemeinde. Und das da», und damit zeigte Don Antonio auf die Statue der ehemals weinenden Madonna, «das ist
meine
Madonna! Also hau ab und mach, dass du deinen Arsch zurück nach Rom bewegst!»
Don Ignazio war ja schon so einiges von seinem ehemaligen Schützling gewohnt, aber das ging dann doch zu weit. «Sei nicht so schrecklich ordinär. Wenn du den Messwein nicht verträgst, dann trink ihn nicht, Antonio! Und nun zu dir.» Damit wandte sich Don Ignazio an Francesco de Renzi, der, immer noch blass um die Nase und verstört, nichts auf die Angriffe des betrunkenen Don Antonio zu erwidern wusste. «Du, Francesco de Renzi, hast wirklich Nerven, hier aufzukreuzen, und das nach allem, was damals geschehen ist.»
«Ähm …», sagte Francesco de Renzi nur.
Da kam Don Antonio nicht mehr mit. «Ihr kennt euch?», fragte er verwirrt.
«Bei Gott, wir kennen uns!», antwortete Don Ignazio. «Dass ich da nicht gleich draufgekommen bin! Wer heißt in dieser Gegend schon de Renzi? Aber bitte, wenn man so alt ist wie ich, dann braucht es schon mal seine Zeit, bis man die Zusammenhänge versteht.» Don Ignazio sah sich offenbar bemüßigt, sich bei Don Antoniozu entschuldigen, bevor er ihn darüber aufklärte, warum Francesco de Renzi für ihn tatsächlich kein Unbekannter war.
«Im Jahr 1945, der Krieg war noch nicht vorbei, bewarb sich bei mir ein Junge aus Castello della Libertà um eine Stelle als Ministrant. Die Kirche von Castello war im Winter 1943/44 ausgebrannt, und die Castellesen kamen in der Zeit zu mir in die Messe. Dieser ehrgeizige Junge wollte also Ministrant werden, nur dass es sein Vater niemals erlaubt hätte, denn Mauro de Renzi war überzeugter Faschist, und ich, nun ja, ich war der Feind. Also hab ich den Jungen wieder nach Hause geschickt, denn ich wusste genau, was es bedeutete, sich mit der Familie de Renzi anzulegen. Und er hat es mir nicht verziehen, dass er die erste wichtige Stufe auf der Karriereleiter zum Papst nicht erklimmen konnte. Als die Deutschen ihren Rückzug aus Italien antraten, brandschatzten und mordeten sie, wo immer sie hinkamen. Und der Junge bekam Gelegenheit zur Rache: Er verriet einem deutschen Soldaten, dass es in der Kirche von Treviso wertvolle Gegenstände und Waffen zu holen gebe, weil die Widerständler dort ihr Quartier hätten. Die Deutschen ermordeten den Küster, einen guten Mann von nicht einmal vierzig Jahren, der sich zufällig in der Kirche aufhielt, als sie hier eindrangen. Sie haben ihn draußen an die Wand gestellt und erschossen. Dann nahmen sie alles mit, was sie in die Finger kriegten, und das war beileibe nicht viel: ein paar Lüster, den Messkelch, ein paar Bilder, undsie schändeten die Madonna von Treviso, indem sie ihr die Augen ausstachen und den Heiligenschein abrissen. Nur reichte ihnen das nicht. Nachdem sie hier fertig waren, zogen sie im Dorf von Haus zu Haus, mordeten, vergewaltigten und nahmen mit, was immer sie tragen konnten. Nach dem Krieg zogen der Junge und seine Familie fort aus Castello, irgendwohin in den Süden, wo kein Mensch ihre Geschichte kannte, und bis heute hat nie wieder jemand von ihnen gehört.»
«Es tut mir leid», sagte Francesco de Renzi. Dann verstummte er. Es dauerte lange, bis sich der Abgesandte endlich
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