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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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»Jar«2 Es war etwas ganz Eigenes, Besonderes und erinnerte Nikita doch gleichzeitig an etwas sehr Vertrautes, Geliebtes . . . Er schaute sich noch einmal um – und vor seinem inneren Auge tauchten die Bilder aus einem alten Kinderfilm auf: ein Dschinn in einer Lampe, die ein junger Pionier in der Moskwa findet.
    Im Saal war es dämmrig – die Fensterläden waren halb geschlossen, die Deckenlampen ausgeschaltet, nur die Wandleuchten brannten. Überall gab es gemütliche Nischen. Die Wände waren mit zarten Aquarellbildern bemalt, die die Illusion schufen, man schaue aus einem Fenster, und im Dunst rosiger Wolken eröffne sich der Ausblick auf eine orientalische Stadt – hohe, spitzbogige Minarette, mit Kuppeln bekrönte Moscheen, Palastdächer und hängende Gärten. Wo die Wandmalerei endete, begannen blauweiße maurische Kacheln. Mit den gleichen Kacheln war auch ein kleiner, schalenförmiger Springbrunnen in der Mitte des Saales ausgelegt. Beruhigend plätscherte das Wasser, und dazu – Nikita traute seinen Ohren nicht – gurrten Tauben. Er blickte nach oben: Von der Decke hingen in Höhe der Fenster große Vogelkäfige. Darin saßen ein weißes Taubenpärchen mit roten Schnäbeln und zottigen Krallen und vier Kanarienvögel.
    Tische gab es im Saal nur wenige, und sie sahen alle etwas schief und krumm aus. Geschnitzt aus massivem Holz, waren sie grob, aber ungeheuer gemütlich. Die Stühle passten dazu -schwere Möbelstücke mit hohen geschnitzten Rücken und polierten Armlehnen. In den Fensternischen standen bauchige kleine Sofas, die mit gestreifter Seide in Blau, Grün, Orange und Gold bezogen waren. Den Boden bedeckten flauschige arabische Teppiche in Kirschrot und Dunkelblau, vor den Sofas standen mit Schnitzereien verzierte niedrige orientalische Tischchen. An den Wänden wölbten sich mächtige, ungefüge Kommoden, die im Laufe der Zeit ganz dunkel geworden und vom Holzwurm stark zerfressen waren. Darauf stand blank geputztes Kupfergeschirr: Schüsseln, Schalen, Teekannen, Kaffeekannen.
    Durch einen Gewölbebogen gelangte man in den Nachbarsaal, der etwas kleiner war. Auch dort standen die gleichen wacklig aussehenden Tische, außerdem noch ein riesiger Kamin, der eine ganze Wand einnahm, mit einer offenen Feuerstelle. Vor dem Kamin stapelte sich sauber aufge-schichtetes Brennholz, daneben stand ein schmiedeeiserner, mit Kohle befüllter Grill. An den Wänden hingen kupferne Becken, die sich bei näherer Betrachtung als die antiken Schilde orientalischer Wachsoldaten entpuppten.
    Es duftete nach Kaffee und Äpfeln, süßem Butterteig und Rosen, obwohl man nirgends Rosen sah.
    Um diese Stunde war das Restaurant noch leer. Einen Besucher gab es allerdings doch schon, er saß in einer Ecknische auf einem Sofa. Kolossow erkannte ihn – es war einer der beiden Männer, die gestern Aurora begleitet hatten, Serafim Simonow. Er erhob sich schwerfällig vom Sofa, streckte Kolossow seine muskulöse Pranke entgegen, verlor aber plötzlich das Gleichgewicht und plumpste wieder in die Seidenkissen zurück. Er war betrunken. In diesem Moment hörte man aus dem anderen Saal die laute, tiefe Stimme einer Frau, die mit unverhohlenem Ärger jemanden ausschimpfte: »Reichlich früh, um schon über andere herzuziehen, findest du nicht? Es ist erst zehn. Für Denunziationen die falsche Uhrzeit.«
    »Ich denunziere niemanden, ich stelle die Dinge so dar, wie sie sind, und verlange kategorisch: Das ›Ghayin al Ghalmy‹ muss sofort von der Karte gestrichen werden. Poljakow hat die Marinade total verdorben.« Die Stimme, die das ganz entrüstet sagte, war die eines Mannes, ein jugendlich klingender Bariton.
    »Na, dann mach was, verbessere die Sauce! Von mir aus tu noch etwas Essig dran . . .«
    »Essig!«, jaulte die Männerstimme verzweifelt auf. »Maria Sacharowna, manchmal setzen Sie mich wirklich in Erstaunen. An die Marinade von ›Ghayin al Ghalmy‹«, der Mann sprach dieses Abrakadabra mit fast religiöser Ehrfurcht aus, »Essig zu tun, das ist. . . das ist. . . Nein, nehmen Sie lieber gleich dieses Messer hier und bringen mich um, statt mir, einem Profi, mit so einem Ansinnen zu kommen. Auf so etwas können auch nur Sie und ihr Günstling Poljakow verfallen!«
    »Lass Poljakow in Ruhe, Lew! Ich kenne ihn seit fünfundzwanzig Jahren, damals hast du dir noch in die Hose gemacht. Er hat in Restaurants gearbeitet, von denen du grüner Junge dir nicht mal hast träumen lassen. Seine Tolma Edschmiadsin haben die

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