Das zarte Gift des Morgens
ganz bestimmt nicht erwartet, dort bereits Zeugen für seinen neuen Fall vorzufinden. An dem langen Konferenztisch saßen drei Leute: ein blondes Püppchen mit schicker Sonnenbrille, wie ein Teenie in strassbestickte Jeans und ein himmelblaues Top gekleidet. An ihrem Hals und ihren Händen funkelte ein ganzes Sortiment von teurem Modeschmuck – Armbänder, Uhren, Ringe mit Kettchen, Kettchen mit Kreuzen, Medaillons, Anhänger. All das klingelte melodisch, glitzerte und funkelte. An einer anderen Frau hätte dieser ganze teure Klimbim gekünstelt und lächerlich ausgesehen, aber Aurora (und es war wirklich Aurora, Kolossow hatte sie sofort erkannt, schließlich hatte er sie schon x-mal im Fernsehen und auf den Titelseiten der Illustrierten gesehen) stand dieser putzige, leichtsinnige Flitterkram ausnehmend gut. Sie erinnerte Kolossow an einen Weihnachtsbaum aus Talmisilber, ebenso zerbrechlich, auffallend, grauenhaft unecht und gleichzeitig überaus prächtig. Selbst der Chef, dessen Herz aus Stahl war, war sichtlich erfreut und geschmeichelt, sogar etwas verlegen.
Zusammen mit Aurora waren zwei junge Männer erschienen. Kolossow hielt sie zunächst für die Leibwächter der Sängerin, aber einer von ihnen, ein fülliger, temperamentvoller, rotwangiger Mann, der ein bisschen dem jungen Alexej Tolstoi ähnelte, stellte sich sogleich als Pjotr Mochow, Journalist und Kritiker, vor. Der andere, ein hochgewachsener, blonder Athlet mit dem Aussehen eines Dressman, war ein Freund des ums Leben gekommenen Studnjow und hieß Serafim Simonow.
Alle drei waren über die Nachricht vom Tode Studnjows sehr betroffen, drückten ihren aufrichtigen Kummer und ein völlig begreifliches ängstliches Interesse daran aus, was ihrem Bekannten denn wirklich widerfahren sei. Sie redeten alle gleichzeitig und fielen sich ständig ins Wort.
Kolossow beobachtete das alles, ohne sich selbst ins Gespräch zu mischen. Es war klar, dass man im Büro des Chefs aus den Zeugen nicht viel Brauchbares herausbringen konnte. Die Atmosphäre war nervös und gekünstelt, alles andere als sachlich. Aber vielleicht war das ja vorläufig sogar von Vorteil.
»Dieser Studnjow ist also praktisch vor euren Augen vom Balkon gefallen?«, fragte Katja. »Könnte es nicht doch sein, dass ihn jemand gestoßen hat?«
Kolossow schüttelte verneinend den Kopf.
»Wäre er also nicht auf seine Loggia hinausgegangen, hätte er deiner Ansicht nach im Bett oder im Bad an dem Gift sterben müssen?«
»Oder im Auto, wenn er noch etwas länger dort geblieben wäre.«
»Dort? Habt ihr denn schon festgestellt, wo er sich am Freitagabend aufgehalten hat?«
»Er war im Restaurant ›Al-Maghrib‹.«
»Das gibt’s doch nicht!« Katja wäre beinahe aufgesprungen.
»Wieso?«
»Das ist ja bei mir um die Ecke. Ich bin schon hundertmal daran vorbeigegangen. Marokkanische Küche. Dieser Studnjow war dort zusammen mit Aurora, ja?«
Dieselbe Frage war der Sängerin auch vom Chef gestellt worden, sehr höflich und sehr nachdrücklich: »War der Verstorbene mit Ihnen zusammen im Restaurant?« Und alle drei Zeugen, Aurora, Mochow und Simonow, hatten auf diese Frage einstimmig geantwortet: »Er war mit uns allen zusammen, es war eine geschlossene Gesellschaft, lauter gute Freunde. Alles war wunderbar, wer hätte sich vorstellen können, dass der Abend mit einer so entsetzlichen Tragödie endet!« Aurora erklärte etwas verworren und umständlich, sie habe diesen Abend für ihre Freunde organisiert und zu diesem Zweck gleich das ganze Restaurant gemietet. Außer ihr selbst, Studnjow, Mochow und Simonow seien nur noch ihre beste Freundin Maria Potechina sowie eine befreundete Journalistin dabei gewesen. Es sei ein sehr gelungener Abend gewesen, alle hätten sich gut unterhalten. Studnjow sei in bester Stimmung aufgebrochen, und zwar gleichzeitig mit allen anderen, nicht früher oder später. Er sei mit dem eigenen Wagen nach Hause gefahren.
»Das heißt, er ist nicht mit Aurora zusammen weggefahren?«, fragte Katja enttäuscht. »Ich dachte, wenn sie so schnell zu euch gerannt kommt, war er garantiert ihr Liebhaber! Also insgesamt waren bei diesem Abendessen drei Männer und drei Frauen. Drei Paare«, stellte sie fest. »Um wie viel Uhr war die Feier zu Ende?«
»Laut Aussage dieser drei sind sie alle etwa kurz nach eins nach Hause gefahren. Und um halb drei haben wir in Stolby schon die Leiche untersucht. Studnjow muss aus dem Restaurant sofort nach Hause gefahren sein, sonst kommt
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