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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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Schicki-Micki-Typen wie Schauspieler, Restaurantkritiker und elegante Society-Damen ein, aber um dann diese ganzen auf dem Grill und offenen Feuer zubereiteten Herrlichkeiten zu begießen, wählt sie auf schlicht russische Manier Wodka. Vor Kolossows innerem Auge erschien eine Flasche »Flagman« – eisgekühlt, reifbedeckt, die Flüssigkeit im Inneren durchsichtig wie eine Träne aus Kristall. Gleich wurde ihm leichter zumute. Bei einem Gläschen russischem Wodka rutschen alle diese angeberischen arabischen B’stillas schon viel glatter hinunter.
    Er kehrte zu den Vorspeisen zurück und richtete seine Aufmerksamkeit nicht auf die seltsamen Bezeichnungen, sondern auf die Spalte mit der Überschrift »Ingredienzien«. Hier war eigentlich alles verständlich: Kalbfleisch, Hammelfleisch, Truthahn, Huhn, Kräuter, Tomaten, Pfeffer, Auberginen, Kürbisse, Knoblauch, Aprikosen, Ananas, Apfelsinen, Mango, Pflaumen. Sein Blick blieb an zwei Worten hängen: »eingelegte Zitronen«. Was sollte das denn bedeuten? Gurken und Pilze, ja, die werden eingelegt, aber Zitronen?
    Nikita seufzte und dachte: Wie gut, dass Katja sich für solche Sachen interessiert. Es war wirklich ein glücklicher Zufall, dass sie eine Bekannte unter diesen Gourmets hatte. Allein die Namen der Gerichte auf der Speisekarte: Sardinen in Pfeffersauce, gebackene Seezunge in »Fes«-Sauce, Jakobsmuscheln mit Lime Juice, Königskrevetten »Aladin« – wie sollte er ohne weiblichen Beistand begreifen, was das war, woraus es bestand und wie es zubereitet wurde? Und wo in dieser kulinarischen Vielfalt das Gift versteckt gewesen sein konnte?
    Ich muss die Kellnerin Jelena und den Koch Saiko noch einmal verhören, dachte Nikita melancholisch. Und natürlich diesen Poljakow, den Meister aller Pfannen und Töpfe, vorladen. Ich muss wissen, was Studnjow konkret bestellt und gegessen hat. Allerdings werde ich dann auch die Karten auf den Tisch legen und von dem Gift sprechen müssen. Und das gibt garantiert einen Skandal. Kein Restaurant wird es hinnehmen, dass man es ohne Beweise beschuldigt, einen Gast vergiftet zu haben. Obwohl, warum eigentlich ohne Beweise? Es liegt ja ein Gutachten vor. Aber natürlich werden die Besitzerin und diese diplomierten Köche trotzdem alles abstreiten.
    Eins ist klar, Studnjow kann das Gift nur bei dem Essen im Restaurant zu sich genommen haben. Aber genau das werden sie mit Schaum vor dem Mund leugnen, denn da geht es um ihren Ruf, das ist für ihr Lokal eine Frage von Leben und Tod.
    Er rief sich das »Al-Maghrib« ins Gedächtnis. Nein, hier würde er sehr behutsam vorgehen. Es wäre schade, wenn dieses maurische Schmuckkästchen mit all seinen Tauben, Kanarienvögeln, Diwanen und Wandleuchten vorzeitig dicht machen müsste. Das »Al-Maghrib« hatte Kolossow trotz der unverständlichen exotischen Speisen gefallen, und er wünschte dem Restaurant und seinen Mitarbeitern nichts Böses. Er las die Speiseliste bis zum Schluss durch und achtete dabei besonders auf Wörter wie »Knoblauch«, »Pfeffer«, »aromatischer Pfeffer«, »Gewürzmischung Sambal«, »Gewürzmischung Ras el-Hanout«. Walentina Sawarsina hatte ja, wie ihm wieder einfiel, in diesem Zusammenhang ausdrücklich Gewürze erwähnt.
    Nachdem er das Fax beiseite gelegt hatte, skizzierte er einen kurzen Plan der wichtigsten Dinge, die er in Angriff nehmen wollte. Dem Milizrevier Stolby fiel dabei eine besondere Aufgabe zu: Lessopowalow sollte Genaueres über die Person des ums Leben gekommenen Studnjow herausfinden. Bislang wusste man ja kaum etwas über ihn, und langsam begann das Nikita zu wurmen. Für sich selbst notierte er den Namen »Gussarow« mit dem Vermerk »unbedingt verhören«. Dann überlegte er kurz, holte Luft und schrieb: »K. anrufen wegen Informationen über A. Berg«. Der Gedanke daran, dass er mit Katja sprechen würde, und das schon sehr bald, erfüllte ihn mit nervöser Vorfreude.
    Wieder tauchten vor seinem inneren Auge die mit Aquarellen bemalten Wände des »Al-Maghrib« auf. Das wäre genau der passende Ort für einen Abend mit Katja. Auf einem gestreiften Diwan würden sie an einem Tischchen sitzen, nur sie beide, und um sie herum Idylle pur – singende Kanarienvögel, turtelnde Täubchen, ein plätschernder Springbrunnen, brennende Kerzen, die sich in ihren Augen widerspiegelten . . .
    Er wusste noch nicht, wie er es Katja sagen sollte, aber er hatte vor, diesen Traum so schnell wie möglich zu verwirklichen. Noch ahnte er nicht, welches

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