Das zarte Gift des Morgens
schlängelte.
Das war die Schnur des vorsintflutlichen Telefons, das noch von den Vormietern stammte. Der Telefonapparat selbst stand auf dem gefliesten Fußboden im Bad. Dort konnte man vor lauter heißem Dampf kaum etwas sehen, der Spiegel war völlig beschlagen. Die Wanne war bis zum Rand mit Wasser gefüllt, ein Teil davon war schon auf den Boden geflossen. Auf den weißen Fliesen leuchteten grellrote Flecken. In der Wanne, den Kopf tief auf die Knie gebeugt, saß eine Frau. Ihr korpulenter nackter Körper nahm fast den ganzen schmalen Raum der Wanne ein und ließ kaum Platz für das Wasser.
Das Telefon klingelte. Es klingelte lange, sein gellender Ton durchschnitt die schwüle, mit seifigem Dunst gesättigte Luft. Die Frau in der Wanne regte sich. Sofort wurden auf der Wasseroberfläche hellrosa Schlieren sichtbar, die sich rasch verdichteten. Die Frau schien wie aus einer Ohnmacht aufzuwachen, sie lauschte auf die hartnäckigen schrillen Klingeltöne, streckte die Hand aus – mechanisch, matt. In der Hand hatte sie eine Rasierklinge gehalten. Wie ein Schmetterling aus Stahl flatterte die Klinge leicht und geräuschlos auf die Fliesen. Die Finger der Frau tasteten nach dem Telefonhörer.
Hätte Nikita Kolossow Anfissa jetzt sehen können, er hätte die Frau, mit der er erst vor wenigen Stunden gesprochen hatte, kaum wiedererkannt. Anfissa Berg nahm den Hörer ab, zog ihn mit einer krampfhaften Bewegung ans Ohr und schob dabei die nassen verklebten Haare zurück.
Auf ihrer vollen Brust, auf der weißen, von keinem Sonnenstrahl berührten Haut schimmerten purpurrote Kerben -frische Schnittwunden. Aus ihnen floss das Blut, das das Wasser rot färbte. Es waren schon sechs Schnitte. Sie waren alle nicht sehr tief – die Haut war von der Klinge nur angeritzt worden. Als Katja anrief, setzte Anfissa gerade zum siebten Mal an, sich in die Brust zu schneiden. Doch der Schnitt blieb unvollendet.
11
Als Katja gegangen war, wurde Kolossow ins Sekretariat gerufen: Ein dringendes Fax war für ihn gekommen. Es trug das Logo des »Al-Maghrib« und enthielt eine Auflistung der Speisen vom Freitagabend mit kurzen Erläuterungen, die mit dem Wort »Ingredienzien« betitelt waren. Kolossow nahm das Fax mit und vertiefte sich sofort in die Lektüre. Der Koch Saiko war wirklich erstaunlich rührig und hilfsbereit. Nikita hatte mit dieser Liste frühestens in drei bis vier Tagen gerechnet, und auch das nur nach mehreren telefonischen Mahnungen. Aber das Fax aus dem »Al-Maghrib« kam bereits drei Stunden, nachdem er das Restaurant verlassen hatte. Diese Eile nährte freilich auch seinen Argwohn, dass der Tod eines Gastes für das »Al-Maghrib« ein Ereignis von der Art war, über die einem sehr überzeugend alles Mögliche erzählt wird, nur nicht die Wahrheit.
An dieser Thalliumsulfatvergiftung war etwas faul. Und das wussten nach Kolossows Überzeugung längst alle im »Al-Maghrib« – sowohl die Gäste wie das Personal.
Nikita las die Speisekarte wie ein Kochbuch. Wenn man berücksichtigte, dass er bis dahin erst zweimal in seinem Leben ein Kochbuch in Händen gehalten hatte – einmal hatte er seiner Tante zum Geburtstag eine besonders opulent bebilderte Ausgabe geschenkt, das andere Mal hatte er eine von ihm verehrte Mitschülerin in der neunten Klasse damit beglückt, die er unbedingt heiraten wollte (zum Glück hatte er es dann doch nicht getan) dann konnte man sich leicht ausmalen, wie es um sein Verständnis kulinarischer Fachbegriffe bestellt war. Was zum Beispiel bedeutete »Frittüre« oder, noch mysteriöser, »Tapas«?
Die Speisenliste war in kleine Abschnitte unterteilt: kalte und warme Vorspeisen, Tapas, B’stillas, Hauptgerichte -Fleisch, Fisch, vegetarische Speisen – und Saucen. Nikita studierte diese ganzen kulinarischen Finessen etwa eine halbe Stunde lang, dann legte er eine kurze Zigarettenpause ein, um etwas zur Besinnung zu kommen, und las alles noch einmal von vorn. Er ging die Liste der Weine durch, die zum Essen gereicht worden waren. Rotweine, Weißweine, hauptsächlich teure französische Marken, aber auch spanische und italienische. Außer Wein tauchten auf der Liste Whisky der Marke »Jack Daniels«, Kognak, Liköre und »Flagman«-Wodka auf.
Kolossow grinste: Typisch! So sind sie, unsere Russen. Da feiert so ein exquisites Popsternchen eine Party in einem exotischen marokkanischen Restaurant, wo allein schon die Namen der Gerichte wie ägyptische Hieroglyphen aussehen, lädt allerlei
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