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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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Ereignis der Anstoß für Katja und ihn sein würde, das »Al-Maghrib« zu besuchen.

12
    Warum es so ist, lässt sich schwer sagen – aber mit Menschen, die uns geistesverwandt sind und die unsere aufrichtige Sympathie haben, verkehren wir zwar gern, aber selten. Und meistens per Telefon oder E-Mail. Das wusste Katja aus eigener Erfahrung. Anfissa Berg hatte ihr gleich bei der ersten Begegnung gefallen. Sie war gesellig, offen, direkt, auf weibliche Art ein wenig schwatzhaft, chaotisch und zerstreut. Das war Katjas erster Eindruck von ihr gewesen. Nachdem sie ihre neue Bekannte eine Weile beobachtet hatte, kam Katja zu der Überzeugung, dass Anfissa außerdem ein gutmütiger, geradezu altmodisch romantischer und leicht zu begeisternder Mensch war. Und zweifellos war sie eine begabte Künstlerin. In der Fotoausstellung, von der Katja Kolossow hatte erzählen wollen, waren auch vier Fotografien von Anfissa zu sehen gewesen.
    Diese Fotografien hatten überhaupt erst zu der Bekanntschaft zwischen den beiden Frauen geführt. Auf Anfissas Bildern glaubte man eine Landschaft von einem fernen Planeten zu sehen, mit einem ganz unirdisch wirkenden Sonnenuntergang. Aber Katja erkannte den Ort augenblicklich. Es war die Große Düne auf der Kurischen Nehrung in der Nähe des Dorfes Rybatschij. Es gab für Katja viele Gründe, diese baltische Landschaft niemals zu vergessen. Unter den Aufnahmen las sie den Namen des Fotografen, »A. Berg«, und dachte erst, es handle sich um einen Mann, Alexander, Anatoli oder Andrej, vielleicht ein Kaliningrader, weil er diese Gegend so einfühlsam fotografiert hatte.
    So lernten sie sich kennen und kamen ins Gespräch, und gleich stellte sich heraus, dass sie jede Menge gemeinsamer Themen hatten: diese Fotos zum Beispiel, die Katja so gut gefielen, die Kurische Nehrung selbst, auf der Anfissa sich häufig aufhielt und nach Motiven suchte, ihre letztjährigen Reisen nach Jerusalem und Peru, die Fotografie als Beruf und als Kunst, Katjas Kriminalreportagen und die Frage, was darin erfunden, was angedeutet und was die reine Wahrheit war.
    Anfissa lauschte Katjas Geschichten mit angehaltenem Atem und rief nur von Zeit zu Zeit aus: »Wie seid ihr nur darauf gekommen, gerade dort zu suchen? Und dass das der Mörder ist?« Katja betrachtete Anfissas Fotografien mit aufrichtiger Begeisterung und überschüttete sie ihrerseits mit Fragen: »Wie hast du es geschafft, aus dieser Perspektive zu fotografieren, dieses Licht einzufangen?«
    War das alles etwa nicht genug, um einander sofort sympathisch zu finden, sich anzufreunden, die Telefonnummern auszutauschen? Sie riefen sich von da an öfters an und freuten sich jedes Mal, wenn sie die andere am Telefon hörten. Aber die Zeit verging, und wie es so ist – die Anrufe wurden seltener und seltener, kamen nur noch zu bestimmten Anlässen, zu Festtagen, zum Geburtstag.
    Als Katja Kolossow versprochen hatte, Anfissa anzurufen, hatte sie geglaubt, alles werde so wie früher sein: Hallo, wie geht’s, wie ist die Stimmung, was gibt es Neues? Erst dann wollte sie das Gespräch vorsichtig und diplomatisch auf die Ereignisse im »Al-Maghrib« lenken. Aber Anfissas Stimme am Telefon, heiser, leblos, kaum wiederzuerkennen, eine Stimme wie aus dem Jenseits, alarmierte sie aufs Äußerste. Alarmierend fand sie auch, dass Anfissa über ihren Anruf gar nicht überrascht war. Offenbar war es ihr ganz gleichgültig, wer sie anrief und wovon der Anrufer schwatzte.
    Ihr Gespräch verlief ungewöhnlich kurz, wenn man bedachte, dass sie früher kaum mit weniger als zweieinhalb Stunden ausgekommen waren. Aber jetzt antwortete Anfissa auf alle besorgten Fragen Katjas: »Was ist mit dir?« und »Ist etwas passiert?« einsilbig und langsam, nur mit Mühe artikulierend: »Nichts, alles in Ordnung.« Dann sagte sie noch: »Katja, ich . . .«, und verstummte danach für lange Zeit, bis Katja wieder zu sprechen begann und verlegen in den Hörer stotterte, sie müsse Anfissa unbedingt treffen, so bald wie möglich, um mit ihr über einen wichtigen und sehr dringenden Fall zu reden.
    »Einen Fall?«, fragte Anfissa zurück wie ein Schlafwandler, den man aus seinen Träumen reißt, und willigte gehorsam ein, ohne Neugier oder Freude zu zeigen: »Gut. Morgen um zwölf im Park der Kultur.«
    Dann rauschte etwas im Hörer sehr laut. Es hörte sich an wie Wasser. Gleich darauf war das Gespräch unterbrochen. Und so fieberhaft Katja auch wieder anzurufen versuchte, es war immer

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