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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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eingeladen. Ich glaube, das war vorletztes Jahr, im Winter. Und auf dieser Ausstellung . . .«
    »Stopp«, flehte Nikita. »Ich hab schon begriffen.«
    »Auf dieser Ausstellung habe ich Anfissa kennen gelernt«, beendete Katja ihren Satz. »Sie ist sehr nett und begabt und beschäftigt sich professionell mit künstlerischer Fotografie. Wir haben uns richtig angefreundet. Das letzte halbe Jahr habe ich sie allerdings nicht gesehen, aber bei Bedarf. . .«
    »Schon gut.« Kolossow machte eine abwehrende Geste. »So genau brauchst du es mir nicht zu erklären.«
    ». . . kann ich sie direkt von hier aus anrufen«, sagte Katja. »Ich darf ihr doch von dem Gift erzählen, ja? Anfissa ist eine kluge Frau, der kann man sowieso nichts vormachen. Du hast mir eine Liste der Angestellten gegeben, die an jenem Abend die Speisen zubereitet und serviert haben, und auch von den Gästen, die mit Studnjow am selben Tisch gesessen haben. Stehen die alle unter Verdacht?«
    »Ich habe einfach nur alle potentiellen Zeugen aufgeschrieben.«
    »Gussarow war an jenem Abend nicht im Restaurant. Warum hast du auch ihn aufgeschrieben?«
    »Das war Intuition«, grinste Kolossow. »Gussarows Name wurde mir heute im Restaurant sehr oft und sehr nachdrücklich genannt. Außerdem bin ich der Meinung, auch wenn er an jenem Abend nicht im Restaurant war und nicht mit Studnjow am selben Tisch saß, so ist das doch noch kein Alibi. Er hätte ja auch eine andere Person mit dem Mord beauftragen können.«
    »Für einen Mord muss es ein wichtiges Motiv geben.«
    »Nun, ein Motiv hatte Gussarow. Wenn die Ehefrau sich mit einem Liebhaber herumtreibt, liegt der Gedanke an Rache nicht fern.«
    »Aurora ist von Gussarow geschieden.«
    »Die Vermögensfrage ist aber bis jetzt nicht geklärt. Auch das hat man mir heute im ›Al-Maghrib‹ mehr als einmal zu verstehen gegeben.«
    »Aber es ist ja nicht Aurora vergiftet worden, sondern Studnjow«, bemerkte Katja.
    Kolossow zuckte die Schultern, was so viel hieß wie: Sei nicht so spitzfindig – das wird sich alles klären.
    Katja kehrte in ihr Büro zurück. Sie wusste aus Erfahrung, dass es vergebliche Liebesmüh war, Anfissa Berg um drei Uhr nachmittags an ihrem Arbeitsplatz beim Verlag »Welt ohne Grenzen« zu suchen. Dennoch rief sie dort an und erhielt, wie erwartet, die höfliche Auskunft: »Anfissa ist heute nicht im Haus.«
    Darauf probierte sie es mit der Handynummer: »Der Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar.« Um diese Tageszeit bei Anfissa zu Hause anzurufen hatte wohl auch nicht viel Sinn. Aber Katja wählte die Nummer trotzdem, wenn auch ohne viel Hoffnung. Langgedehnte melancholische Freizeichen – dann wurde der Hörer abgenommen.
    »Anfissa«, rief Katja erfreut, »du bist zu Hause? Ich bin’s, Katja, du hast mich wahrscheinlich schon ganz vergessen. Ich wollte dich schon längst anrufen, aber immer kam irgendwas dazwischen. Wie geht’s dir? Was treibst du so? Gibt es etwas Neues?«
    Katja war eigentlich auf einen ganz gewöhnlichen Plausch unter Frauen eingestellt, ein Gespräch über alles und nichts, von der Art, die mit der Nachricht beginnt: »Du, ich hab mir die Haare gefärbt, ein ganz toller Farbton!« – und mit der Mitteilung aufhört: »Hör mal, der Soundso hat geheiratet, den kennst du doch auch. Der arme Kerl, welcher Teufel hat ihn nur geritten?« Aber als sie Anfissas Stimme hörte, die fast bis zur Unkenntlichkeit verändert war und so brüchig klang, als käme sie aus dem Grabe, erschrak sie heftig. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass Anfissa ja an jenem Abend im »Al-Maghrib« gewesen war und am selben Tisch mit dem Mann gesessen hatte, der vergiftet worden war.
    Wäre sie in diesem Augenblick ans andere Ende Moskaus nach Ismailowo, in die Parkowaja-Straße, versetzt worden, hätte sie dort das alte fünfstöckige Haus aus grauem Backstein betreten und wäre in den zweiten Stock in die Wohnung Nr. 15 gestiegen – und hätte in der Diele ein wildes Durcheinander erblickt: gleich hinter der Tür eine Handtasche, deren Inhalt herausgefallen und auf dem Boden verstreut war (Portemonnaie, Handy, Puderdose, eine Zigarettenschachtel, eine Brille und der nicht zu Ende gelesene Roman »Die Klavierspielerin« von Elfriede Jelinek), Futterale und Ladegeräte für Fotokameras, Pumps, eine zerknitterte weiße Sommerhose, die über der Schranktür hing, staubige Sandaletten, ein zerknautschtes T-Shirt und ein langes schwarzes Kabel, das sich an Wohnzimmer und Küche vorbei ins Bad

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