Das zarte Gift des Morgens
besetzt.
Am nächsten Tag rannte Katja kurz vor zwölf zur Metrostation »Park der Kultur«. Merkwürdig war es schon: Ihre eigene Metrostation und ihre Wohnung befanden sich nur zwei Häuserblocks weiter. Anfissa wohnte in einer ganz anderen Gegend, in Ismailowo, aber als Treffpunkt hatte sie ausgerechnet diesen Ort vorgeschlagen. Vielleicht hoffte sie, dass sie zu Katja nach Hause gehen und einen gemütlichen Schwatz auf dem Sofa bei einer Tasse Kaffee halten würden? Mit Verdruss dachte Katja an ihren leeren Kühlschrank: Joghurt, ein Glas Mayonnaise, zwei Pfirsiche, ein Apfel, Eier und ein welker Kopf Blumenkohl. Wenn Wadim auf Reisen war, kochte Katja gewöhnlich nicht. Ohne ihren Göttergatten war die Wohnung ausgestorben und verwaist.
Es wäre nicht schlecht, überlegte sie, noch rasch eine Torte zu kaufen oder wenigstens einen Apfelstrudel. Anfissa war ein großes Leckermaul, allerdings . . . Ihr fiel wieder ein, wie Anfissas Stimme am Telefon geklungen hatte. Nein, hier war wohl statt einer Torte eher Kognak oder Baldrian angesagt. Ihr kamen sogar Zweifel, ob Anfissa überhaupt zum Treffen erscheinen würde. Vielleicht war sie zu Hause, es ging ihr schlecht, und sie brauchte Hilfe? Übrigens hatten sie ja auch gar nicht verabredet, wo genau sie sich treffen wollten -unten in der Metro oder hier oben am Gartenring? Katja sah sich etwas hilflos um – mein Gott, so viele Leute! Passanten, Händler, Zeitungsverkäufer, Jugendliche, die über die Brücke zum Park liefen, Mütter mit Kinderwagen . . . und überall parkende Autos, in drei, vier Reihen nebeneinander. Wie sollte sie in diesem Gewühl jemanden finden?
Und da plötzlich erblickte sie Anfissa. Sie stand mit gesenktem Kopf vor einem Büchertisch. Katja zog sich das Herz zusammen: Seit ihrer letzten Begegnung hatte Anfissa sich stark verändert. Sie war unförmig dick geworden. Ein sackartiges graues Kostüm umhüllte ihre formlose Figur. Auch ihr Gesicht sah grau, staubig und aufgedunsen aus, das dichte dunkle Haar war nachlässig im Nacken zusammengesteckt. Auf ihrer Stirn glitzerten Schweißtropfen. Anfissa zog eine Papierserviette aus ihrer Handtasche und tupfte sich den Schweiß ab.
Katja ging rasch auf sie zu.
»Anfissa, hallo, hier bin ich.« Sie betrachtete die Freundin und merkte, dieses Treffen fing ganz anders an als erwartet – wer weiß, wie es enden würde. »Wartest du schon lange auf mich?«
»Fünf Minuten.« Anfissa blickte Katja an und seufzte. »Wieder so eine Hitze und so ein Smog . . .«
»Jetzt hat er sich ja schon etwas aufgelöst, heute Morgen hab ich kaum Luft gekriegt.« Katja stockte. »Anfissa, ich muss mit dir reden. Gehen wir am Kai entlang, dort ist es nicht so laut. Du bist doch nicht in Eile?«
»Nein.«
Anfissa warf sich ihre schwere große Beuteltasche, die mit verschnörkelten mexikanischen Ornamenten verziert war, über die Schulter. Der Riemen schnitt ihr tief in die Brust. Katja sah, dass sie zusammenzuckte, sich wie bei einem plötzlichen Schmerz auf die Lippe biss und die Tasche schnell auf die andere Seite hängte.
»Anfissa, ich habe dich gestern angerufen, weil . . .«, begann sie verlegen und stockte. »Ich wollte . . . Ist mit dir alles in Ordnung? Deine Stimme am Telefon klang so krank, ich dachte schon, dass . . .«
»Es ist schon vorbei«, sagte Anfissa. »Wie geht es denn dir selbst?«
»Bei mir ist alles okay.«
»Und was macht Wadim?«
»Urlaub. Er ist mit Meschtscherski zusammen in Sotschi. Anfissa, ich muss mit dir über eine wichtige Sache reden.«
»Ich dachte, er würde mich gleich zu euch bestellen, zum Verhör«, sagte Anfissa leise. »Dein Kollege von der Miliz. Er war gestern im Restaurant und hat gesagt, er will noch mit mir reden und ich bekäme eine Vorladung in die Nikitski-Straße. Ich habe ihm erzählt, dass eine Freundin von mir dort arbeitet.« Anfissa blickte Katja prüfend an. »Und du hast mich sofort angerufen. Nur deshalb?«
»Nicht nur . . . Ich wollte schon lange anrufen und dich Wiedersehen.«
Anfissa lächelte traurig. Geschieht mir recht, dachte Katja. Gerade das verzeihen Freunde am allerwenigsten: Ich wollte, ich hatte schon immer vor . . . aber die Arbeit, die Geschäfte . . .
»Dieser Mordfall hat einen ungeheuren Wirbel ausgelöst«, platzte sie unvermittelt heraus. »Es ist ja kein gewöhnlicher Kriminalfall, sondern ein Giftmord. Maxim Studnjow ist beim selben Abendessen im ›Al-Maghrib‹ vergiftet worden, bei dem auch du warst. Das habe ich
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