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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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Bild von ihm gemacht«, flunkerte sie, »und ich glaube, er war nicht der Typ Mann, der aufs Heiraten scharf ist, und wenn die Frau noch so schön ist. Kein Mann für die Ehe. Warum hast du ihn eigentlich Rattenkönig genannt?«
    »Erinnerst du dich an die Figur aus dem ›Nussknacker‹? Maxims Einstellung zum Leben war die gleiche wie die des Rattenkönigs – halb königlich, halb rattenhaft«, sagte Anfissa. »Alles gehört mir, ich bin der König des Lebens. Und deshalb fresse ich alles und jeden und lasse niemandem etwas übrig, eher will ich platzen. Meinst du nicht auch, er passte gut zu einem solchen Fettwanst wie mir?«
    »Anfissa, so darfst du nicht über dich selber sprechen. Ich mag es nicht, wenn du so redest.«
    »Was glaubst du denn, warum er sich mit mir eingelassen hat? Ist doch sonnenklar. Ich habe einen guten Job, verdiene ordentlich, mache Urlaub im Ausland, bin ständig auf Achse -von den Pyramiden zur Klagemauer, von der Moschee in Casablanca zum Montparnasse und Montmartre. Meine Wohnung wird demnächst renoviert, ich kaufe mir die Klamotten, die ich möchte, oder besser die, in die mein Hintern passt. Fürs nächste Jahr plane ich eine eigene Fotoausstellung. Sogar die ›Vogue‹ hat schon bei mir angefragt, ob ich nicht Lust habe, für sie zu arbeiten. Ist noch mehr nötig?« Anfissa presste die Lippen zusammen. »Liebe, Gefühle, Küsse im Mondschein, das ist es, was sich die Zarentochter Frosch4 wünscht. . . Aber nur im Kino bekommt sie diese Küsse zu sehen. Und da plötzlich – erscheint der Prinz.«
    »Wann habt ihr euch denn kennen gelernt?«
    »Vor einem halben Jahr.« Anfissa wandte sich ab. »Aurora hat mich mit ihm zusammengebracht. Übrigens genau dort, wohin wir jetzt gerade gehen.«
    »In diesem Restaurant? Und Aurora, woher kennst du die?«
    »Ach, diese Leute kommen ganz von selbst angekrochen. Sie kennen alle nur ein Gesprächsthema: Wer finanziert mir die Aufnahmen, wer stellt die Klamotten zur Verfügung, diese Boutique oder jene. Auroras Mann, Dmitri Gussarow, hat ihr für diese Dinge früher ein Heidengeld abgeknöpft. Sein Assistent hat jeden Monat bei uns im Verlag angerufen: Wie wär’s mit Werbeaufnahmen? Am Honorar soll es nicht scheitern. Aufnahmen für Zeitschriften, Titelblätter, doppelseitige Fotoporträts, Plakate. Ich habe Aurora bestimmt zweihundert Mal fotografiert. Na, und bei dieser einen Gelegenheit hat sie selbst mich dorthin geschleppt.«
    »Du meinst, sie hat dich ins Restaurant eingeladen und dort mit Studnjow zusammengebracht?«
    »So würde ich das nicht gerade nennen! Das ist Anfissa, das ist Max, mehr hat sie nicht gesagt – wie man einen Stuhl einem Sofa vorstellt. Ich habe mich kaum getraut, ihn anzusehen . . .«
    »Warum?«
    »Hast du ihn gesehen?«
    »Nein. Bei den Akten gab es von ihm nur ein Foto, wo er nach dem Sturz aus der siebten Etage drauf ist, und dafür fehlte mir der Mut.«
    »Dann ist es verzeihlich, wenn du mich nicht verstehst.«
    »Wieso, war er wirklich so attraktiv?«
    »Er war unwiderstehlich. Zumindest kam er mir damals, beim ersten Mal, so vor – ein Märchenprinz, ein Traummann. Eine geballte Ladung männlicher Erotik. Weißt du, was für ein Bild ich mir immer mit ihm vorgestellt habe? Eine Mauer irgendwo in Palermo, bedeckt mit Graffiti, ein Motorrad, auf dem Boden daneben Patronenhülsen, ein dürrer Ast, ein angebissener Granatapfel, und er – der König des Lebens, der Gebieter über Hinterhöfe und Freudenhäuser . . . Na ja, ist nur eine Metapher. Damals, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, da wurde ich so traurig, Katja. Ehrenwort, ich wollte sofort eine Diät machen. Ins Fitness-Studio gehen. Aber das ist alles Blödsinn, Fitness, Diäten. Weder Sport noch Fettabsaugen heilen einen von der Fresssucht. Es gibt nur ein zuverlässiges Mittel.«
    »Welches?«
    »Schmerz.«
    »Wie meinst du . . . Schmerz?«
    »Wenn dir etwas wehtut, hast du keinen Appetit mehr.« Anfissa blickte Katja an, und in ihren dunklen Augen veränderte sich etwas, zuckte kurz auf, als ob sich für einen Augenblick eine geheime Tür geöffnet habe und gleich wieder fest zugeschlagen sei. »Allerdings muss es richtig wehtun, sonst nützt es nichts. Ein höllischer Schmerz, der einen ununterbrochen quält und den man nicht vergessen kann.«
    »Anfissa . . .« Katja wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr lief wieder ein kalter Schauer über den Rücken, so wie am Tag zuvor, als sie diese seltsame, brüchige, verzweifelte Stimme am

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