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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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Telefon gehört hatte.
    »Wir sind da.«
    Sie standen vor dem Restaurant. Katjas Blick huschte rasch über den Schriftzug der Neonreklame: »Al-Maghrib«. Im Unterschied zu Kolossow nahm sie die Fenster, die Eichentür und die bronzene Laterne mit dem buntem Glas über dem Eingang gar nicht wahr. Sie war schon so oft hier vorbeigekommen, dass ihr die pseudo-orientalische Dekoration, die auf dem Hintergrund des finsteren Hauses aus der Stalinzeit ziemlich unpassend und komisch wirkte, nicht mehr auffiel.
    »Wir nehmen B’stilla – das ist was ganz Leckeres, dazu einen pikanten Krevettensalat und hinterher einen Kaffee.« Anfissa riss ungeduldig die Tür auf und lief mit großen Schritten die Stufen hinunter. Ihre Stimme hatte sich schlagartig, wie durch Zauberei, verändert, nun klangen weder Sarkasmus noch Bitterkeit darin. »Wenn du keinen Appetit auf Mehlspeisen hast, können wir auch Tapas bestellen, das sind solche kleinen spanischen Vorspeisen, die liegen einem nicht schwer im Magen – Sardinen, Oliven, Miesmuscheln, marinierte Tintenfische.«
    Katja blickte ihre Freundin mit unwillkürlicher Verwunderung an. Plötzlich stand ein ganz anderer Mensch vor ihr. Anfissas blasse Wangen hatten sich rosig gefärbt, ihre Augen funkelten. Sie bezwang nur mit Mühe ihre Erregung, während sie Katja durch das leere, kühle Vestibül zum Speisesaal lotste. Sie traten ein: kleine Tische, Nischen, in denen gestreifte Sofas standen, Wandmalereien, ein kleiner Springbrunnen, dessen Schale mit blauen Kacheln ausgelegt war.
    Katja war derart verblüfft über Anfissas seltsame Metamorphose, dass sie all das zunächst gar nicht beachtete. Sie schaute nur die Freundin an – sah die in der Vorfreude auf etwas sehr, sehr Angenehmes leuchtenden Augen, die hastigen Bewegungen, mit denen Anfissa ein paar verrutschte Haarsträhnen zurechtschob, das gestärkte weiße Tischtuch glatt strich, als sie sich an einen Tisch setzten, an der Serviette zerrte und in der Speisekarte blätterte.
    Es waren nur wenige Gäste da, die Tür zum zweiten Saal war geschlossen. Kaum hatten Katja und Anfissa Platz genommen, tauchte eine junge Kellnerin auf. Katja musterte sie neugierig: eine hoch gewachsene, schmale, elegante Blondine, sehr schick, sehr blass, mit rot geschminkten Lippen. Den Lippenstift erkannte Katja sofort: »Christian Dior«, eine Modefarbe dieser Saison, ein Rot, das nur solchen langbeinigen, rassigen Füllen stand, die aussahen wie Nicole Kidman in der Blüte ihrer Kino-Jugend.
    Anfissa nickte der Kellnerin wie einer alten Bekannten freundlich zu. Das Mädchen lächelte zurück, aber es war ein recht gezwungenes, gequältes Lächeln.
    »Lena, wir rufen dich, wenn wir gewählt haben«, sagte Anfissa im Ton eines echten Stammgastes und reichte Katja die Speisekarte. »Musst du heute auch arbeiten?«
    Die Kellnerin nickte nur schweigend und entfernte sich wieder. Ihr Gang war etwas unsicher, so als ob ihre teuren hochhackigen Sandaletten sie schrecklich drückten.
    »Und nach diesem gemeinsamen Essen habt ihr euch dann regelmäßig getroffen?«, fragte Katja, um Anfissa, die die Nase tief in die Speisekarte gesteckt hatte, etwas abzulenken.
    »Was? Wer?« Anfissa hob den Kopf. »Ach so. Ja, hier haben wir damals gesessen, am selben Tisch. Und dort drüben in der Ecknische, wo der Tisch mit der Lampe Aladins steht, saß Serafim Simonow höchstpersönlich.«
    »Und wer ist das?«, fragte Katja, obwohl ihr der Name schon bekannt war.
    »Der Held und Liebhaber in Personalunion.« Anfissa grinste süffisant. »Über ihn gehen alle möglichen Gerüchte um, und niemand weiß, was der Wahrheit entspricht und was seine eigenen Erfindungen sind. Jedenfalls lebt er mit Maria Potechina zusammen, der Besitzerin dieses marokkanischen Gourmettempels. Vom Alter her könnte er eher ihr Sohn sein. Unsere Mariascha ist nicht mehr so ganz taufrisch. Ihr Mann hat sie sitzen lassen, aber das gehört eigentlich nicht zur Sache. Jedenfalls saßen wir damals zu dritt hier, und Serafim dort drüben. Und so hat alles angefangen . . .«
    »Was hat angefangen?«, fragte Katja.
    »Verstehst du, erst habe ich gar nicht richtig kapiert«, Anfissa schlug mit ihrer rundlichen Hand auf den Tisch, »wieso dieser Max mich zwei Tage später plötzlich anrief. Er faselte etwas von irgendwelchen Fotos, die er für Aurora abholen sollte. Er wollte gleich vorbeikommen und diese Fotos mitnehmen. Mir war sofort klar, dass das nur vorgeschoben war und er nicht deshalb

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