Das zarte Gift des Morgens
Aurora und er haben so getan, als sei alles wie vorher, als sei gar nichts geschehen.«
»Wie, wusste Aurora denn von euch?«, fragte Katja erstaunt.
»Natürlich. Max hat ihr selbst alles erzählt. Und sie haben sehr gelacht. Weißt du, wer mir die Augen geöffnet hat? Serafim! Eben der, der an unserem ersten Abend dort drüben in der Ecke gesessen und Kognak getrunken hat. Er betrinkt sich jedes Mal, wenn Mariascha weg ist; sie fahrt oft ins Trainingslager zum Fußball, um ihren Ältesten anzufeuern. Damals war Serafim auch gerade ziemlich betrunken.«
»Und was hat er dir gesagt?«
»Er hat mir gesagt, ich solle mir keine falschen Hoffnungen machen und mich nicht wie die letzte Idiotin benehmen, nicht ständig hier herumlungern und Max auflauem. Er hat gesagt, er hätte mit Max nur gewettet. Mehr nicht.«
»Gewettet? Worum? Doch nicht etwa um dich?«
»Um ihre Männlichkeit, ihre Potenz. Damals, am ersten Abend, hat Max immer gestichelt: Mit dir ist gar nichts mehr los, Serafim, du stehst ja völlig unter Madame Potechinas Pantoffel. Sie hält Serafim tatsächlich vollständig aus. Hat ihm einen Superschlitten gekauft und versucht jetzt, ihn beim Theater unterzubringen, indem sie die richtigen Leute schmiert. Damit er irgendeine Beschäftigung hat und nicht mehr hinter ihrem Rücken trinkt. Serafim hat ihm sofort eine Wette angeboten – bitte sehr, ich reiße hier im Restaurant, direkt unter Mariaschas Augen, die Kellnerin auf, aber du, Max, musst auch beweisen, dass du ein ganzer Kerl und Adler und nicht bloß ein mit Nüssen gefülltes Huhn bist. Serafim hat mir wörtlich gesagt: Ich habe ihm vorgeschlagen, er soll sich an dich, Anfissa, ranmachen. Er glaubte nämlich, das schafft Max nicht, das geht über seine Kräfte, so eine dicke Trulla, so ein Fässchen . . .«
»Anfissa!« Katja kamen fast die Tränen, so Leid tat ihr die Freundin. »Bitte rede nicht so, hör auf damit.«
»Nein, warum denn? Ihr werdet mich ja doch danach fragen. Jetzt, wo Max ermordet worden ist, nehmt ihr euch doch alle seine Bekannten vor. Nein, ich will das erzählen, ich möchte, dass du begreifst, warum ich überhaupt kein Mitleid mit ihm habe, auch nicht das geringste Fünkchen.«
»Wann hast du eigentlich von seinem Tod erfahren?«
»Gestern, hier im Restaurant«, antwortete Anfissa. Sie sah Katja an und wandte dann ihren Blick ab. »Da kommt die B’stilla. Man muss sie möglichst heiß essen, dann ist sie am leckersten.«
Die Kellnerin rollte ein Serviertischchen in den Saal, auf dem Teller aus Steingut standen, kleine Schalen mit Saucen, Salatschüsseln und das Hauptgericht für den Nachbartisch, bedeckt von einer glänzenden Metallhaube. Sie bewegte sich langsam und matt, als müsse sie sich zu jeder Bewegung zwingen.
»Sie war es, die damals von Serafim angebaggert worden ist«, flüsterte Anfissa, »und sie treffen sich immer noch. Sie ist total verrückt nach ihm, aber er beachtet sie kaum. Ich habe sie einmal zusammen gesehen, sie verstecken sich vor Maria wie kleine Kinder. Eine alberne Komödie!«
Jelena schob den Serviertisch zu ihnen hinüber. Katja war durch das Gespräch so abgelenkt gewesen, dass sie gar nicht richtig mitbekommen hatte, was sie sich eigentlich alles bestellt hatten. Nun prangte vor ihren Augen etwas höchst Verführerisches, appetitlich Aussehendes mit einer knusprigen, rotwangigen Kruste: eine Pirogge aus Blätterteig, umgeben von Oliven, Ananasschnitzen und Limonenscheibchen.
»B’stilla ist eine echt marokkanische Delikatesse«, sagte Anfissa. »Guck nicht nur, iss.«
Und Katja aß. Die Pirogge war köstlich – luftig und gehaltvoll zugleich, zerging sie auf der Zunge. Die saftige Füllung aus Fleisch war mit Käse, Mandeln, Rosinen und Früchten zubereitet, man schmeckte Zimt und Zucker und noch verschiedene andere intensive Gewürze.
»Danke, Lena, das Dessert und den Kaffee dann später«, sagte Anfissa und bewaffnete sich mit Messer und Gabel. Sie aß mit solcher Gier, als hätte sie sek Tagen keinen Krümel mehr im Mund gehabt. Ihre Wangen und ihr Kinn glänzten vor Fett, immer wieder tupfte sie sich das Gesicht mit der Serviette ab und kaute, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten.
»Na?«, fragte sie schließlich und sah Katja gespannt an.
»Sehr gut, wirklich.«
»Weißt du, ich hab mal gelesen, als Byron mit der Gräfin Guiccioli zusammenlebte, hat er ihr verboten, in seiner Gegenwart zu essen. Sie saßen immer zusammen bei Tisch, er aß, sie nicht. Er ekelte sich
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