Das zarte Gift des Morgens
freundlich lächelnder junger Mann kam durch den Saal auf ihren Tisch zugeeilt. Er trug eine Brille mit schicken runden Gläsern und hatte sich in eine schwarze, panzerähnliche Lederhose gezwängt. Unter seiner fransenbesetzten Weste im Hippie-Look blitzte ein teures Designerhemd aus orangeroter Seide hervor, auf seiner Brust baumelte eine dicke, handgefertigte Halskette aus Keramik, die Arbeit peruanischer Indianer, und ein Handy an einem Bändchen. Unter den Arm hatte er eine stutzerhafte Ledertasche mit Monogramm geklemmt.
»Anfissa, mein Engel, eine dringende Angelegenheit.« Die Worte kullerten ihm so fröhlich und rasch aus dem Mund wie Erbsen. »In der ›Maske‹ ist um vier eine Präsentation von Desserts der Saison. Um sechs muss mein Artikel fertig sein . . . Wer ist das? Eine Freundin von dir? Sehr angenehm. Pjotr Mochow. Entschuldigt, dass ich störe, aber du weißt ja, Anfissa, die Arbeit geht vor. Lass uns zur ›Maske‹ fahren, ich bin mit dem Auto da. Du wirst es nicht bereuen, die haben dort einen neuen Chefkoch . . .«
»Pjotr ist unser Restaurantkritiker«, sagte Anfissa zu Katja, »eine wandelnde Enzyklopädie der Kochkunst, aber manchmal muss man ihm aus der Klemme helfen. Na, das erkläre ich dir später. Ein neuer Chefkoch, sagst du? Gut, du hast mich schon überredet. Wartest du drüben auf mich? Du kannst ja so lange einen Kaffee trinken.«
»Ich ziehe mich zurück, aber ich sage nicht adieu.« Mochow eilte in den anderen Saal und hinterließ eine Duftwolke aus teurem Herrenparfum, Leder und scharfem Schweiß.
»Er hat Diabetes und darf nichts Süßes essen«, erklärte Anfissa. »Versuch mal, mit Diabetes als Restaurantkritiker zu arbeiten. Aber das ist eine andere Geschichte. Eins will ich dir noch sagen, Katja, damit du nicht auf falsche Gedanken kommst: Ich habe Max nicht umgebracht, aber ich klatsche dem, der es getan hat, laut Beifall.«
»Das ist doch gar nicht wahr«, sagte Katja. »Das meinst du doch nicht wirklich.«
»Vielleicht nicht. Aber das ist meine Privatsache und geht niemanden etwas an.« Anfissa tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab. »Wo bleibt unser Erdbeersorbet?«
Jelena erschien, wieder mit einem Serviertisch. Sie schob ihn langsam, mühevoll, obwohl der kleine Rolltisch gar nicht übermäßig beladen war – die Glasschalen mit dem Eis standen darauf, eine hohe arabische Kaffeekanne aus Kupfer, Tassen, eine Schüssel mit Datteln, Feigen und Rosinen. Plötzlich schwankte Jelena, stolperte, fasste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, nach dem vernickelten Griff des Tischchens und gab ihm so unwillkürlich einen Stoß. Der Tisch rollte klirrend und klappernd vorwärts, die Kellnerin ruderte ungeschickt mit den Armen und stürzte dann mit voller Wucht nach vorn auf den Tisch – Glasschalen und Tassen flogen auf den Boden. Jelena stieß einen heiseren Schmerzensschrei aus – die Kanne mit dem heißen Kaffee war ebenfalls umgekippt, und die dampfende braune Flüssigkeit hatte ihr die Beine verbrüht.
Katja sprang auf, ohne zu begreifen, was geschah. Anfissa blieb bleich und entsetzt sitzen. Die anderen Gäste erhoben sich von ihren Tischen, einer schrie: »Ihr ist schlecht, sie braucht einen Arzt!« Die Kellnerin lag auf dem Boden und wand sich in Krämpfen. Ihre nackten Beine schlugen gegen den umgestürzten Serviertisch, ihr Kopf zuckte wild hin und her. Das dichte blonde Haar war mit Eis und Kaffeesatz verschmiert. Sie ächzte, ihre Finger kratzten über die Bluse auf der Brust, als wolle sie die Knöpfe öffnen, um Luft zu bekommen. Jemand rief erschrocken: »Das ist ja ein epileptischer Anfall!« Wieder schrie Jelena heiser auf, aber dann brach der Schrei plötzlich ab.
»Was geht hier vor? Lena, Lenotschka, was hast du?«
Ein Mann mit weißer Kochmütze und einer Schürze mit dem Monogramm des Restaurants tauchte im Saal auf und stürzte zu der inzwischen reglos auf dem Boden liegenden Kellnerin.
»Einen Arzt!«, schrie er. »Um Gottes willen, holt sofort einen Arzt! Bestimmt hat sie eine Toxikose, so was kommt bei Schwangeren vor.«
Katja beugte sich über die junge Frau. Jelenas Gesicht war bläulich angelaufen. Aus dem Mundwinkel sickerte ein dünnes Blutrinnsal.
»Mein Gott, was ist das . . .« Anfissa war aufgestanden und näherte sich dem Mädchen. »Iwan Grigoijewitsch, ich glaube, sie atmet nicht mehr, sie ist tot!«
Katja griff nach ihrer Handtasche, holte ihre Puderdose heraus, öffnete sie und reichte sie dem Mann mit der
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