Das zarte Gift des Morgens
andere. Vielleicht hatte sie ein Stück Fleisch gegessen oder von diesem zähen Papp aus Rosinen und Nüssen probiert, der dekoriert wie ein niedlicher kleiner Osterkuchen auf einem Keramikteller mit maurischen Ornamenten lag.
»Was ist das?«, fragte Kolossow den Chefkoch.
»Unser hausgemachtes Couscous mit Früchten«, erwiderte Poljakow. »Ich war gerade mit der Gestaltung dieses Gerichts beschäftigt, als ich den Lärm und das Geschrei im Saal hörte. Ich habe sofort alles stehen lassen und bin hinausgelaufen. Können Sie mir sagen, was Lena eigentlich zugestoßen ist? Und warum man gleich ein solches Aufgebot an Miliz hergeschickt hat? Warum interessieren Sie sich so für unsere Küche und unsere Speisen?«
»Können Sie sich nicht selbst denken, was Lena passiert ist, Iwan Grigoijewitsch?«, fragte Nikita finster.
»Ich? Nein. Ich dachte, sie hätte eine Art Anfall . . . Das passiert Frauen in ihrer Situation doch manchmal. Als meine Cousine schwanger war, hat sich bei ihr eine schlimme Toxikose entwickelt. Gott sei Dank hat man ihr rechtzeitig eine Dialyse gemacht. . .«
»Die Worobjowa war schwanger?«, fragte Kolossow. »Woher wissen Sie das?«
»Sie hat es mir heute Morgen selbst gesagt. Sie kam ganz blass und erschöpft hier an. Ich habe sie gefragt, ob sie vielleicht krank sei? Sie hat gesagt, nein, das sei keine Grippe, sondern etwas viel Schlimmeres. Sie erwarte ein Kind und ihr sei entsetzlich übel.«
»Etwas viel Schlimmeres als eine Grippe? Damit meinte sie das Kind?«
»Ja, genauso hat sie sich ausgedrückt, und dann ist sie ganz erbittert zur Toilette gegangen, offensichtlich war ihr wirklich übel. Ich habe ihr gesagt, sie könne ruhig nach Hause fahren und sich hinlegen, heute haben bei uns sowieso zwei Kellner Dienst, und sie hatte die ganze Woche noch keinen freien Tag. Aber da hat sie gesagt, es gehe ihr schon besser . . . Was sehen Sie mich denn so an?«
»Wie denn?«
»Nun, als ob . . . als ob ich schuld daran sei.«
»Woran?«
»An ihrem Zustand.«
»Tja, ist doch merkwürdig.« Kolossow grinste gequält. »Was meinen Sie, Iwan Grigoijewitsch, wen informiert eine Frau gewöhnlich als Ersten über so etwas? Doch wohl den Vater, oder nicht?«
»Nein«, erwiderte Poljakow scharf, »wenn Sie dieser Meinung sind, junger Mann, heißt das, Sie kennen das Leben schlecht und die Frauen überhaupt nicht.«
Am liebsten hätte Kolossow ihm rundheraus geantwortet: Aber Sie, Iwan Grigorjewitsch, haben natürlich jede Menge Erfahrung mit Frauen und kennen sie in- und auswendig. Übrigens, kennen Sie zufällig auch eine gewisse Sascha Maslowa? Der Chefkoch, fand er, war reif für ein offizielles Verhör wie eine Weihnachtsgans für den Kochtopf, aber noch hatte seine Stunde nicht geschlagen.
In der Buchhaltung des Restaurants wurde die Adresse Jelena Worobjowas festgestellt: Sie wohnte in einem Vorort von Moskau. Sofort machten sich Mitarbeiter der Mordkommission auf den Weg dorthin. Alle Angestellten des Restaurants wurden eingehend befragt: Hatte irgendwer etwas Verdächtiges bemerkt? Wie üblich, hatte niemand etwas gesehen. Aber einstimmig versicherten alle, vom Chefkoch bis zum Lastenträger, etwas Derartiges sei im »Al-Maghrib« noch niemals vorgekommen. Und sie äußerten Zweifel: Musste die Miliz wirklich einen solchen Wirbel machen? Vermutlich war Jelena Worobjowa einfach an einem Herzanfall gestorben oder an einer Thrombose. Bei der Gluthitze und der Abgasglocke, die über Moskau lag, war so etwas doch nicht erstaunlich.
Kolossow bat die Angestellten des Restaurants, rasch ihre Chefin zu benachrichtigen. Die Anwesenheit Maria Potechinas war für eine ganze Reihe von Formalitäten unbedingt erforderlich. Poljakow versuchte, sie zu Hause und über ihr Handy zu erreichen, doch vergebens.
»Heute ist Mittwoch«, sagte er, »mittwochs und freitags ist sie gewöhnlich nicht hier, sondern fährt nach Nowogorsk, ihr ältester Sohn ist dort im Trainingslager. Er spielt in der Fußballmannschaft der Junioren. Ein sehr talentierter Bursche. Wahrscheinlich ist sie jetzt dort, bei ihm.«
Man versprach Kolossow, die Chefin möglichst noch im Laufe des Tages ausfindig zu machen. Das Restaurant wurde vorläufig geschlossen, bis die Ergebnisse der chemischen Analysen Vorlagen. Die Angestellten waren über diese Nachricht entsetzt. Wenn der Mittwoch und der Donnerstag ausfielen – na gut, das war nicht so schlimm, aber der Freitag und das Wochenende, wenn die meisten Gäste kamen! Sie
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