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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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sie seinem schlimmsten Feind nicht wünscht. Auch wenn sie nur Restaurantkritiker sind – man darf nie vergessen, dass jedes unbedachte Wort schon am nächsten Tag süffisant von der gesamten Moskauer Boulevardpresse kolportiert werden kann.
    »Pjotr, sagen Sie mir ehrlich, warum haben Sie so lange auf mich gewartet? Was wollten Sie mir sagen?«
    »Ich wollte von Ihnen erfahren, woran Lena gestorben ist.«
    »Haben Sie ihr eigentlich die Stelle hier im Restaurant verschafft?«
    ›Ja, das war ich.«
    »Kennen Sie sie schon lange?«
    »Ich kenne die ganze Familie. Ich habe nämlich einen Stiefbruder, der zusammen mit Lenas ältestem Bruder das Priesterseminar in Sergijew Possad besucht hat. Beide sind zu Mönchen geweiht worden und leben jetzt im Kloster von Optina Pustyn. Durch meinen Stiefbruder habe ich die ganze Familie kennen gelernt. Für mich war das sehr interessant. Ich bin zuvor nie mit Priesterfamilien in Kontakt gekommen.«
    »Jelena Worobjowa kam aus einer Priesterfamilie?« Nikita dachte, Mochow wolle ihn zum Besten halten.
    »Ihr Vater war Kirchenvorsteher in Pirogowskoje, das ist ein Dorf an der Kljasma. Er starb vor drei Jahren. Obwohl Lenas Bruder das Priesterseminar damals schon abgeschlossen hatte, wollte man ihm die Gemeinde nicht übergeben. Da ist er dann Mönch geworden. Lenas Familie ist groß – zwei Brüder, zwei jüngere Schwestern, die Mutter, die Großmutter, dann noch eine alte Tante, die bei ihnen lebt -auch eine Popenfrau. Nach dem Tod des Vaters blieb ihnen nur die Witwenrente. Lenas Schwestern studieren, ihr jüngerer Bruder verdient nicht viel, der ältere ist Mönch, und die Mutter ist krank und hat noch die beiden Alten am Hals. Sie haben es wirklich nicht leicht. Da hat Lena mich eines Tages gebeten, ob ich ihr nicht irgendwo einen gut bezahlten Job besorgen könnte, egal wo. Maria Sacharowna brauchte zufällig gerade eine nette, aufgeweckte und ehrliche Kellnerin. Ich habe ihr vorgeschlagen, Lena einzustellen.«
    »Niemals hätte ich gedacht, dass sie aus der Familie eines Priesters stammt«, gestand Kolossow. »Sie sah so schick und modisch aus. Hat sie denn eine Kellnerausbildung gemacht oder etwas Ähnliches?«
    »Sie ist Diplomphilologin«, sagte Mochow. »Vorher hat sie bei einem orthodoxen Verlag gearbeitet, ist aber von dort weggegangen – man zahlte ihr nur Groschen.«
    »Und wie viel hat sie hier bekommen?«
    »Ich glaube, so um die vierhundert Dollar.«
    »Sie sind ja, wie ich höre, ein großer Restaurantkenner, da können Sie mir sicher sagen, was das ›Al-Maghrib‹ für ein Ort ist?« Kolossow ließ seinen Blick durch den Speisesaal schweifen.
    »Ein sehr vielversprechender. Na, vielleicht würde es keine drei Sterne im Michelin bekommen, zwei Sterne hat es aber bestimmt verdient. Und glauben Sie mir, das sage ich nicht nur, weil Maria Potechina eine gute alte Freundin von mir ist. Das ist eine Tatsache. Das Aushängeschild jedes Restaurants ist sein Koch. Und das ›Al-Maghrib‹ hatte das Glück, zwei unvergleichliche Meister ihres Fachs zu bekommen, zwei ganz verschiedene Persönlichkeiten, von denen die eine schlichtweg genial ist.«
    »Wen meinen Sie damit?«
    »Poljakow. Er könnte sogar im Kreml arbeiten, für den Präsidenten persönlich. Aber er ist hierher gekommen.«
    »Warum? Zahlt Frau Potechina so großzügig?«
    »Sie bezahlt ihn sehr anständig, glauben Sie mir. Aber es geht nicht ums Geld. Poljakow und sie sind alte Freunde, sie haben zusammen angefangen, in einem Restaurant an der Gorki-Straße. Er als Koch, sie als Wirtschafterin. Ich vermute sogar, dass sie damals eine Affäre hatten. Aber das bleibt streng unter uns.« Mochow lächelte. »Jedenfalls haben sie zusammen ein Pud Salz gegessen, und als Maria nach ihrer Scheidung in einer schwierigen Lage war, ganz auf sich gestellt mit ihrem Geschäft, da hat Poljakow ihr großmütig seine helfende Hand gereicht und das Restaurant unter seine Fittiche genommen. Heute gibt es solche edlen Ritter nur selten, er gehört zu einer aussterbenden Rasse. Allerdings hat er, soweit ich gehört habe, in letzter Zeit einige Probleme. Aber das sind persönliche Angelegenheiten, auf seine Arbeit wirkt sich das nicht aus. Und dann hat er ja auch immer noch Lew Saiko zur Seite. Lew kenne ich noch aus dem ›Port Said‹. Eigentlich war das ein Spielkasino in der Pokrowka-Straße, aber es gehörte auch ein recht gutes Restaurant dazu. Leider hat man den Besitzer erschossen, das Kasino musste zumachen und Saiko

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