Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
Vom Netzwerk:
der Trauerschleife stand: »Der lieben Jelena von ihren Freunden und Kollegen«. Diesen Kranz hatte Lew Saiko zusammen mit einem großen Foto von Jelena schon vorher auf den Friedhof gebracht und vor das Grab gelegt.
    Die Zeremonie nahm ihren gewohnten Gang. Der Priester las die Gebete, der Sarg wurde ins Grab hinuntergelassen, die Angehörigen und Freunde warfen Erde und Blumen auf den Deckel aus Eichenholz. Dann ergriffen die Totengräber ihre Spaten und machten sich ans Werk. Rasch wuchs ein kleiner Hügel aus Sand heran und bedeckte sich mit Blumen und Kränzen.
    In den Wipfeln der Birken rauschte eine leichte Brise, die vom Fluss herüberwehte. Im Wald hinter dem Friedhof kreischten die Elstern, von der Straße hörte man Motorengebrumm. Katja setzte sich auf eine kleine Holzbank, die neben einem eingezäunten Grab stand. Es war vorbei. Ein Leben war zu Ende gegangen. Lena Worobjowa, eine schöne junge Frau, Tochter eines Priesters, Kellnerin – begraben und im Sand verscharrt.
    Kolossow ging auf Mochow zu. Der unterhielt sich gerade leise mit dem jungen Mann, den Katja für den Bruder Jelenas gehalten hatte. Katja sah, wie Kolossow ihn begrüßte und mit ihm sprach.
    Hinter ihr, von der Straße her, erklangen Schritte. Katja blickte sich um. Zwischen den Birkenstämmen tauchte eine große Gestalt auf: ein junger Mann in Jeans, Jeansjacke und Sonnenbrille, mit einem Rosenstrauß in der Hand. Der Unbekannte zögerte, unschlüssig, ob er zum Grab gehen oder im Hintergrund bleiben sollte. Er nahm die Sonnenbrille ab -die hastige Geste verriet seine starke Erregung – und lehnte sich mit dem Rücken an eine Birke. Katja hatte diesen Mann noch nie gesehen. Er war eine auffallende Erscheinung, die man nicht vergaß – hoch gewachsen und kräftig, mit breiten Schultern und männlichen Gesichtszügen.
    Wer ist das?, dachte Katja voll nervöser Neugierde. Was will er hier? Warum geht er nicht zum Grab, sondern versteckt sich?
    In kleinen Grüppchen zu zweit und zu dritt verließen die Leute allmählich den Friedhof und gingen auf die Busse zu. Katja sah Kolossow zusammen mit Mochow und dem schlaksigen jungen Burschen. Sie hielt sich zurück – so ein Männergespräch störte man besser nicht – und schaute sich wieder nach dem Fremden um. Aber er war verschwunden.
    Am Grab erwies man der Toten die letzte Ehre und verabschiedete sich. Lew Saiko trat auf Jelenas Mutter zu, sagte leise etwas zu ihr, beugte sich tief hinab und küsste ihr die Hand. Von Jelenas Kollegen war er der einzige, der auf dem Friedhof erschienen war. Katja fragte sich, ob das ein Zufall war.
    Vor der Kirche stiegen die Leute bereits in die Autobusse, um zum Totenschmaus zu fahren. Kolossow wartete neben seinem Wagen auf Katja.
    »Das hätten wir geschafft«, sagte er. »Tja, kein leichter Job, den wir haben . . . Übrigens war das wirklich ihr jüngerer Bruder. Er heißt Juri.«
    »Er ist nicht zufällig Seminarist?«, fragte Katja.
    »Nein, das habe ich ihn auch gefragt. Er sagte, er hätte Geodäsie studiert und arbeite jetzt.«
    »Wo?«
    »In irgendeiner Firma. Katja, hast du nicht selbst gesagt, hier ist nicht der Ort, um die Leute zu verhören?«
    »Ihr Vater war also Priester an dieser Kirche?« Katja schaute zu den Zwiebeltürmen hinauf. »Aber warum hat dann nicht ihr Bruder die Gemeinde übernommen?«
    »Wieso, werden Gemeinden neuerdings vererbt?«
    »Ich weiß nicht, Nikita. Ich dachte erst, es hätte an seiner Jugend gelegen. Aber der hiesige Pope, der neue, ist ja auch noch ganz jung. Also war das nicht der Grund. Die Kirche handelt oft weise« – Katja betrachtete die weit geöffnete Kirchentür –, »und in diesem Fall hat sie es offenbar für notwendig gehalten, die Gemeinde einem anderen Kirchenvorsteher anzuvertrauen. Dafür gab es sicher Gründe.«
    »Ich weiß nicht recht, worauf du hinauswillst«, sagte Kolossow. »In Kirchendingen kenne ich mich nicht so aus. Hast du Saiko gesehen? Was hältst du von ihm?«
    »Er scheint mir ganz sympathisch zu sein. Ach, da vom kommt er ja. Alle Achtung, der fährt ja einen heißen Schlitten.«
    Saiko ging langsam auf den vor dem Eisenzaun stehenden BMW zu. Die Alarmanlage piepste. Die Bulldogge, die ihr Herrchen schon sehnsüchtig erwartet hatte, sprang aus dem Wagen. Saiko tätschelte ihr den Kopf. Er hatte keine besondere Eile wegzufahren, offenbar wollte auch er zum Essen bleiben.
    »Er ist also gekommen, um von ihr Abschied zu nehmen«, sagte Nikita leise, »und hat dieses traurige

Weitere Kostenlose Bücher