Das zarte Gift des Morgens
gleichen Gift getötet wurde wie Studnjow. Bei ihr war es im Saft, und den kann sie ebenso gut im Geschäft gekauft wie aus dem Restaurant mitgebracht haben. Besonders erhellend ist das alles nicht. Wenn sie die Saftpackung aus dem Restaurant mitgenommen hat, bedeutet das, die Manipulation mit der Spritze ist vom Mörder direkt im ›Al-Maghrib‹ vorgenommen worden. Wenn sie den Saft im Geschäft gekauft hat, dann konnte die Thalliumlösung nur jemand in die Packung spritzen, der bei ihr in der Wohnung war. Den Saft hat sie um halb acht zum Frühstück getrunken, das hat das Gutachten festgestellt. In ihren Kühlschrank muss die Saftpackung also erheblich früher gelangt sein.«
»Es lässt mir keine Ruhe, warum ausgerechnet sie getötet wurde«, sagte Nikita nachdenklich. »Für den Mord an Studnjow kann man sich genug Gründe vorstellen. Aber eine Kellnerin! Vom Standpunkt der schlichten Logik betrachtet, und du weißt, dass ich der Logik am meisten vertraue – wem könnte die Worobjowa im Weg gewesen sein? Und wozu all diese komplizierten Manipulationen – Giftspritze, Kleber, mit Seife abgewaschene Fingerabdrücke?«
»So kompliziert war das gar nicht, Nikita. Das konnte man in zwei Minuten bewältigen – ein Loch in die Packung bohren, dann mit Sekundenkleber verschließen, die Packung unter dem Wasserkran abwaschen – fertig. Und was den Mord selbst betrifft. . . Wann hast du Jelena verhört? Mittwochvormittag. Hat sie dir irgendetwas Wesentliches gesagt?«
»Nein, es war ein uninteressantes Gespräch, wenig nützlich.«
»Aber das hast nur du gewusst. Jemand anders hat vielleicht vermutet. . . Das Gift ist nur ein paar Stunden nach eurem uninteressanten Gespräch in den Saft gespritzt worden. Gut möglich, dass jemand große Angst vor ihren Aussagen gehabt hat, Nikita.«
»Was für Aussagen?«
»Na, da könnte es doch einiges geben. Kellnerinnen haben gewöhnlich scharfe Augen. Sie hat an dem Abend gearbeitet, an dem Studnjow vergiftet wurde.«
»Und am Mittwoch war sie vormittags da, obwohl sie gar nicht arbeiten musste. Mir hat sie gesagt, sie hätte ihr Handy vergessen, aber das war eine Lüge, das habe ich gespürt. Und ihre Chefin war gar nicht erfreut über ihr Erscheinen. Das war jedenfalls mein Eindruck. Vielleicht wollte sie nicht, dass ich Jelena verhöre?«
»Vielleicht«, sagte Katja. »Alles ist möglich. Sag mal, war Serafim Simonow an diesem Vormittag im Restaurant?«
»Ja. Und zwar schon zu dieser frühen Tageszeit gut abgefüllt. Er ist allerdings bald verschwunden, ich habe gar nicht richtig mitbekommen, wohin. Eigentlich wollte ich ja auch mit ihm sprechen.«
»Und hat Jelena nach dem Gespräch mit dir das Restaurant ebenfalls verlassen?«
»Ja, das hat sie. Sie hat mir gesagt, mittwochs hätte sie Spätschicht. Ab sechs.«
»Ab sechs und bis wann?«
»Bis halb zwei. Um zwei in der Nacht schließt das Restaurant.«
»So spät? Aber wie ist sie dann nach Hause gekommen, habt ihr das festgestellt?«
»Ja, das Restaurant hat einen Vertrag mit einem Privattaxi. Der Taxifahrer bringt die Angestellten der Spätschicht nach Hause. Er hat auch Jelena Worobjowa nach Hause gefahren. Am nächsten Morgen kam sie dann um halb zehn, da hatte sie die Frühschicht.«
»Was ergibt sich also daraus für uns? Um zwei Uhr nachts kommt sie heim, um sieben steht sie schon wieder auf, trinkt zum Frühstück ein Glas Saft, fährt zur Arbeit und stirbt kurz nach eins. Zumindest wissen wir jetzt, wo sie sich Mittwochmorgen, Mittwochabend und Donnerstagmorgen aufgehalten hat. Aber was hat sie am Mittwoch tagsüber gemacht, nach dem Gespräch mit dir? Wohin ist sie gefahren, mit wem war sie zusammen? Wem gehört dieser merkwürdige Anhänge] mit der Patronenhülse? Wann genau hast du denn am Mittwoch das Restaurant verlassen?«
»So ungefähr ein Uhr mittags«, sagte Nikita. »Du glaubst also, man hat sie aus dem Weg geräumt, weil sie etwas wusste oder gesehen hat, was sie uns hätte erzählen können?«
»Jedenfalls ist dieser zweite Mord im ›Al-Maghrib‹ sehr schnell nach dem ersten passiert. Hast du eine andere Theorie?«
»Tja . . . eher nicht. Weißt du, was mich jetzt am meisten interessiert?« Kolossow schwieg einen Moment. »Wie ist Studnjow das Gift verabreicht worden? Dass beide Giftmorde Zusammenhängen, ist unstreitig. Aber was wissen wir über das erste Opfer? Das Gift wurde ihm im Laufe des Abendessens gegeben. Was Studnjow im Einzelnen gegessen hat, wissen wir nicht. Wir
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