Das zarte Gift des Morgens
wissen nur in groben Zügen, was im Speisesaal geschehen ist: Maria Potechina, Aurora, Simonow, Studnjow, Mochow und deine Freundin Anfissa haben alle zusammen an einem Tisch gesessen. Man hat mir so eine kleine Skizze gemacht, wer wo saß . . .«
»Studnjow saß natürlich neben Aurora«, sagte Katja. »Das weiß ich auch ohne deine Skizze.«
»Genau. Im Speisesaal steht ein Holzkohle-Grill, dort waren die beiden Köche Saiko und Poljakow beschäftigt. Sie bereiteten dort das Fleisch vor den Augen der Gäste zu und haben während des ganzen Essens den Saal nicht verlassen. Aber Jelena Worobjowa ist hinausgegangen. Sie war schließlich die Kellnerin, musste mal dies bringen, mal das servieren. Mir hat sie allerdings gesagt, sie wäre nicht hinausgegangen. Und nun wollen wir unserer Fantasie mal freien Lauf lassen. Das verpflichtet uns vorläufig zu nichts. Sechs Gäste sitzen am Tisch, zwei Köche arbeiten im Saal vor ihren Augen. Die Kellnerin läuft zwischen Saal und Küche hin und her. Wer von diesen neun Leuten kann am leichtesten Gift in eine der für Studnjow bestimmten Speisen tun? Natürlich die Kellnerin.«
»Aber nur vom Standpunkt der allerprimitivsten Logik aus betrachtet«, meinte Katja, »und das ist eine vorläufig durch nichts untermauerte Hypothese. Aus welchem Grund sollte die Worobjowa Studnjow umgebracht haben? Welche Rechnungen könnten zwischen ihnen offen gewesen sein? Und weiter – woher soll sie sich das Thalliumsulfat beschafft haben? Übrigens, ist das etwa der Grund, warum du dich so lebhaft für ihre Familie interessierst?«
»Vielleicht auch darum. Jedenfalls ist der Ablauf, wie ich ihn dir geschildert habe, durchaus logisch. Es passt nur nicht ins Bild, dass die Tochter eines Priesters eine kaltblütige Mörderin sein soll.«
»Jeder, der am Tisch saß, kann Studnjow das Gift auf den Teller praktiziert haben!«, wandte Katja ein. »Du kennst doch solche Feiern – dort herrscht immer Lärm und Durcheinander. In diesem Hin und Her hätte jemand einfach so tun können, als würde er eine Speise nachsalzen, und niemandem wäre etwas aufgefallen. Achtest du etwa bei uns in der Kantine darauf, wer sich sein Schnitzel pfeffert und wie oft? Auch die Köche hätten das tun können. Vergiss nicht -es wurden Gewürze benutzt, um den Beigeschmack zu überdecken. Du brauchst also nicht voreilig die Worobjowa zu verdächtigen. Meinst du denn, ein paar flüchtige Eindrücke auf dem Friedhof könnten uns irgendwelche Hinweise geben?«
»Ich möchte einfach sehen, wer zu ihrer Beerdigung kommt.«
»Glaubst du, es kommt auch der Mann, von dem sie ein Kind erwartete?«
»Mich interessiert vor allem, wer aus dem ›Al-Maghrib‹ da sein wird.«
»Ich denke, Mochow wird kommen, schließlich ist er ja ein Freund der Familie«, meinte Katja.
»Mochow?« Kolossow schien plötzlich etwas einzufallen. »Weißt du noch, Walentina Sawarsina hat gesagt, um Thalliumsulfat als Gift zu benutzen, braucht man spezielle Kenntnisse in Chemie.«
»Von denen, die wir im Visier haben, verfügt keiner über derartige Kenntnisse.« »Bist du sicher? Lessopowalow hat mich mich so einige Informationen zusammengetragen. Zum Beispiel über Pjotr Mochow. Er lebt bei seinen Eltern, ein Muttersöhnchen. Das Haus, in dem sie wohnen, gehört der Akademie der Wissenschaften, die Wohnungen sind Akademiemitgliedern Vorbehalten. Seine Mutter und sein Vater arbeiten im Sternberg-Institut, beim Zeitdienst. Sein Vater ist dort Leiter des technischen Labors.«
»Davon verstehe ich überhaupt nichts, Nikita, das musst du mir genauer erklären.«
»Das ist ein astronomisches Observatorium«, sagte Nikita, »eine Sternwarte, die optische und photoelektrische Präzisionsgeräte besitzt und verwendet.«
»Klingt ja grässlich. Was verstehen wir denn von solchen Sachen, Nikita?«
»Wir verstehen genug davon, um festzustellen, ob unser Professorensöhnchen Mochow Zugang zum Labor seines Vaters hat und ob in diesem Labor ein Thalliumpräparat zur Verfügung steht. Aber das ist nicht alles, was Lessopowalow herausgefunden hat. Er hat sich auch Informationen über Dmitri Gussarow beschafft, den Ex-Mann von Aurora. Ich hatte ihn beauftragt, Gussarow zu überprüfen.«
»Er ist Musikproduzent!«
»Aber vorher hat er am Mendelejew-Institut Chemie studiert.«
»Hast du vor, ihn zu verhören?«
›Ja«, sagte Kolossow. »Es ist längst an der Zeit, auch den Mann hinter den Kulissen kennen zu lernen. Besonders jetzt, nach dem Tod der
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