Das zarte Gift des Morgens
Ereignis nicht ignoriert wie die anderen . . . Ich denke, mit diesem Koch muss ich mich noch einmal unterhalten. Hast du gesehen, ob er sich bekreuzigt hat?«
»Bekreuzigt?«
»Zur Kirche oder zu den Kuppeln hin, meine ich?«
»Nein, ich habe nichts bemerkt«, sagte Katja erstaunt. »Wieso?«
»Man munkelt, er sei Mohammedaner.«
»Saiko?« Katja schaute sich den Koch des »Al-Maghrib« genauer an. Gerade ging Mochow auf ihn zu. Er stieg in Saikos BMW, setzte sich auf den Rücksitz und schob die Bulldogge zur Seite, die ihm mit ihren Zärtlichkeiten auf den Leib rückte. Offensichtlich waren Mochow und Saiko gute alte Bekannte und gemeinsam gekommen. »Übrigens ist hier so ein seltsamer Typ aufgetaucht, er . . .«
Sie sprach nicht weiter – gerade fuhr ein silberfarbener Geländewagen, ein Range Rover, an der Kirche vorbei.
»Noch so ein heißer Ofen.« Kolossow folgte dem Wagen mit den Augen. »Die lokale Mafia lebt nicht schlecht.«
Die Busse setzten sich in Bewegung. Ihnen folgten der BMW, der Shiguli und der Moskwitsch. Kolossow und Katja fuhren als Letzte ab. Sie gaben der Trauerkolonne bis zur Abzweigung nach Dmitrowka Geleit. Die Busse fuhren an dem Geländewagen vorbei, der am Wegrand geparkt hatte. Als Kolossows Wagen auf gleicher Höhe mit dem Range Rover war, konnte Katja den Mann am Steuer sehen. Es war der Unbekannte in der Jeansjacke. Er hatte den Kopf müde zu-rückgelehnt und schaute der Wagenkolonne nach, als wolle er abwarten, bis sie endlich verschwunden sei.
»Sieh einer an, wen haben wir denn da!«, rief Kolossow überrascht aus. »Katja, weißt du, wer das ist?«
»Ich habe ihn auf dem Friedhof gesehen, das sagte ich dir doch. Er hat sich ziemlich seltsam benommen.«
»Das ist Serafim Simonow höchstpersönlich«, sagte Nikita. »Er ist also auch gekommen. Ich wüsste nur gern, ob im Auftrag der Potechina oder aus eigenem Antrieb.«
»Anfissa hat mir erzählt, er und Jelena hätten . . . Es gab da so eine komische Wette . . . Aber eigentlich ist das alles nicht so wichtig, dummes Geschwätz. Wer ist er überhaupt, was macht er?«
»Angeblich ist er Schauspieler. Aber das müssen wir noch überprüfen.« Kolossow schaute in den Rückspiegel. Der Range Rover rührte sich immer noch nicht von der Stelle – ein unwirkliches Luxusgefährt auf einer stillen Dorfstraße.
18
Am Samstag geschah bei Aurora ein Unglück – ihr jüngster Sohn Kirjuscha wurde krank. Seine Temperatur stieg auf 39 Grad, und der herbeigerufene Arzt stellte die Diagnose »Angina«.
Wenn die Kinder krank waren, war Aurora immer völlig kopflos. Eine schlimmere Folter gab es für sie nicht.
»Was regst du dich so auf, Natascha?«, sagte ihre Mutter zu ihr. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, die Aurora immer noch mit diesem Namen anredeten, und die Tochter sah es ihr nach. Ihre Mutter wich dem kranken Enkel auch nicht von der Seite, war aber erheblich gelassener. »Na, dann ist es eben Angina, wahrscheinlich hat er etwas Kaltes getrunken, als ihr im Zoo wart. Macht nichts, das geht vorbei. Als du klein warst, hattest du auch oft Angina. Und auch immer im Sommer, bei der größten Hitze.«
Die Ruhe ihrer Mutter machte Aurora nur noch nervöser. Sie empfand diese chaotischen Tage in der schwülen kleinen Wohnung in Tekstilschtschiki, die vollgestopft war mit alten Möbeln, halb ausgepackten Koffern, Kinderspielzeug, Schuhen in der Diele, Medikamenten und Mixturen auf allen Tischen und Fensterbänken, als sinnlos und quälend. Vergeblich versuchte sie sich einzureden, das sei alles nur, weil der kleine Kirjuscha krank geworden war. Aber daran lag es nicht. Am Sonntag fiel die Temperatur des Jungen, er frühstückte sogar wieder mit Appetit. Die Oma las ihm das Märchen »Der standhafte Zinnsoldat« von Andersen vor. Doch Auroras Angst und Nervosität vergingen nicht.
Sie wollte sich nicht eingestehen, dass die Angst in ihrem Herzen seit dem Tag nistete, an dem sie den Anruf mit der Nachricht von Maxim Studnjows Tod erhalten hatte. Kaum eine Woche später erfuhr sie, dass auch die Kellnerin Lena Worobjowa, von der sie schon Dutzende Male im »Al-Maghrib« bedient worden war, tot war. Vom Tod der Kellnerin berichtete ihr Maria Potechina selbst. Sie rief am Donnerstagabend an; völlig aufgelöst und offenbar nicht mehr ganz nüchtern, und jammerte, ein furchtbares Unglück sei passiert, ihre Kellnerin Lena sei im Restaurant, direkt vor den Augen der Gäste, ermordet worden.
»Wurde sie erschossen?«, fragte
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