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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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Kellnerin.«
    Das Dorf Pirogowskoje war eine alte Datschensiedlung. Vor der Revolution hatte sich hier am Ufer der Kljasma ein reicher Handelsplatz befunden. Auf einem Hügel oberhalb des Flusses stand die Kirche. Solche Kirchen, solide und gedrungen, wurden vor dem Ersten Weltkrieg in den Dörfern rund um Moskau von reichen altgläubigen Kaufleuten gebaut. Grüne Zwiebeltürme, dicke, weiß verputzte Mauern, die selbst eine Kanonenkugel nicht durchschlagen könnte. Der Friedhof befand sich ein Stück weiter weg, in einem Birkenwäldchen hinter dem Dorf.
    Vor dem Eisenzaun, der die Kirche umgab, erblickte Katja zwei leere Busse, einen schäbigen alten Shiguli und einen ebenso armseligen Moskwitsch. Zwischen diesen unscheinbaren Autos prangte wie ein König ein neuer schwarzer BMW mit getönten Scheiben. Durch das dunkle Glas glotzte eine scheckige Bulldogge mit breitem Halsband ins helle Tageslicht.
    Der Gottesdienst war bereits zu Ende. Menschen kamen aus der Kirche. Der Sarg tauchte auf, der Deckel war bereits geschlossen, und schwebte über den Köpfen des Begleitzuges auf seinen letzten Weg. Vier Männer trugen ihn. Katja erkannte Mochow. Der Sargträger neben ihm war ein stämmiger blonder Mann mit rundem Gesicht, in einem teuren schwarzen Anzug, der wie ein Sack um seine quadratische Figur hing. Kolossow beugte sich zu Katja hinüber (sie standen vor dem Eisengitter) und flüsterte ihr zu: »Das ist Lew Saiko, der zweite Koch im ›Al-Maghrib‹.«
    Die beiden anderen Sargträger waren weder Katja noch Kolossow bekannt. Einer war schon älter, offenbar ein Verwandter Jelenas, der andere noch sehr jung, etwa zwanzig Jahre, hoch gewachsen und hager, mit dunkelblonden Haaren, die er im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Bekleidet war er mit schwarzen Jeans, einem dunkelblauen T-Shirt und einem grauen Jackett, das ihm viel zu groß war. Das Gesicht des jungen Mannes war bleich und verweint. Während er mit dem Sarg auf den Schultern voranschritt, stolperte er immer wieder, als sähe er gar nicht, wohin er trat.
    Hinter dem Sarg ging ein junger, bärtiger, stutzerhaft aussehender Priester im Trauerornat. Zwei alte, schwarz gekleidete Frauen trugen eine große, in Handtücher eingeschlagene und mit Papierblumen geschmückte Ikone. Dann folgten Jelenas Angehörige: eine füllige, blasse Frau in schwarzem Kostüm und schwarzem Spitzenschal, die sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt und von zwei jungen Mädchen gestützt wurde. Auch sie trugen schwarze Kostüme und Kopftücher und sahen einander und auch der Frau, die sie stützten, ähnlich. Es waren Jelenas Mutter und ihre beiden jüngeren Schwestern. Hinter ihnen gingen verschiedene Männer und Frauen, hauptsächlich ältere Leute – Verwandte, Nachbarn, Bekannte. Sie führten eine tief gebeugte, trippelnde Greisin, die mit einem Stock fuchtelte und laut wehklagte: »So ein Unglück, so ein Schmerz . . . Wie sollen wir ohne dich leben, Kind . . . Lenotschka, Enkeltochter, warum hast du uns verlassen . . .«
    Die Prozession zog zu Fuß zum Friedhof. Katja und Kolossow schlossen sich dem Ende des Zuges an. Katja fühlte sich abscheulich. So ein heller, fröhlicher Sommertag – von Smog und Brandgeruch merkte man hier auf dem Lande nichts. Die Birken, die den Weg zum Friedhof säumten, leuchteten karnevalsbunt und erfreuten das Auge. Vom Stausee tönten das Getucker der Motorboote und Fetzen von Musik herüber – dort amüsierte man sich, badete, faulenzte. Aber hier im Wäldchen gingen die Menschen traurig und schweigsam, ihre Schuhe schlurften über den Weg, ab und zu schluchzte jemand auf oder schnäuzte sich die Nase.
    Kolossow fühlte sich ziemlich fehl am Platz. Er hustete, zupfte an seinen Dahlien und griff schließlich nach Katjas Arm, als wolle er bei ihr Halt suchen.
    »Komm jetzt bloß nicht auf die Idee, die Mutter und die Schwestern mit Fragen zu belästigen«, flüsterte Katja ihm zu. »Du kannst später noch mal hinfahren, in ein paar Tagen.«
    »Ich weiß. Aber der ältere Bruder, der Mönch, ist gar nicht zu sehen. Vermutlich kommt man aus dem Kloster nicht so ohne weiteres raus.«
    »Ich glaube, der da drüben ist ihr jüngerer Bruder«, sagte Katja. »Der neben Mochow geht und den Sarg trägt. Siehst du, er weint. Er sieht der Mutter und den beiden Mädchen sehr ähnlich.«
    Es wurden viele Kränze und Blumen zum Grab gebracht. Aus dem bunten Haufen stach ein riesiger, prunkvoller Kranz aus purpurroten Rosen und Wacholder hervor. Auf

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