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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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Aurora, die überhaupt nichts begriff.
    »Wieso erschossen«, schrie Maria, »sie wurde vergiftet, genau wie Maxim! Hier wimmelt es von Miliz, das Restaurant ist geschlossen worden. Wir alle sind wie gelähmt. Hörst du, Aurora, Kindchen? Man hat sie vergiftet, genau wie deinen Maxim, den armen Kerl! Er ist gar nicht einfach so vom Balkon gefallen. Ich habe den Obduktionsbericht gelesen. Aurora, ich bin fix und fertig – wie soll das nur weitergehen?«
    »Weitergehen?« Aurora spürte, wie sich die Angst klebrig und kalt in ihrer Brust zusammenballte und ihr in die Kehle stieg. »Warum fragst du das gerade mich?«
    »Ich weiß nicht, ich bin völlig außer mir . . . Meine Kellnerin vergiftet, Max . . . Es ist bei unserem Essen passiert, verstehst du? Die Miliz sagt: Beide Male wurde das gleiche Gift verwendet. Das heißt, diese Morde hängen zusammen!«
    »Hängen zusammen?«, flüsterte Aurora. »Was redest du, Mariascha?«
    »Ach, ich weiß es selber nicht, ich werde noch verrückt. . . Sag mir die Wahrheit, hat er dich noch mal angerufen? Dein Mann?«
    Dieses Gespräch hatte am Donnerstag stattgefunden. Am Freitag, nach einer schlaflosen Nacht, rief Aurora ihren Anwalt an und bat ihn, sich sofort mit dem Anwalt Gussarows in Verbindung zu setzen. Er sollte ihm mitteilen, sie erhebe keinerlei Ansprüche mehr, verzichte auf den Vermögensausgleich, und für die Kinder solle Gussarow nur so viel zahlen, wie er könne und wolle.
    »Sie haben den Verstand verloren, meine Liebe!«, rief der Anwalt entsetzt. »Das ist ja eine komplette Kapitulation. Was ist in Sie gefahren? Das ist dumm und kindisch. Das Gesetz ist hundertprozentig auf unserer Seite! Wenn keine gütliche Einigung möglich ist und es zum Prozess kommt, werden wir gewinnen. Daran habe ich keinen Zweifel.«
    Der Anwalt war energisch und hartnäckig. Er hatte diesen skandalumwitterten Fall übernommen, weil er mit einem satten Honorar rechnete. Er verstand es, seine Klienten zu überreden. Auch Aurora gab schnell klein bei: Ja, das ist eine Dummheit. Natürlich . . .
    Am Morgen hatte das Klingeln des Telefons sie geweckt. Mit Entsetzen merkte sie, dass sie sich fürchtete, den Hörer abzunehmen und seine Stimme zu hören – die Stimme Gussarows. Und diese mit dem gesunden Menschenverstand nicht zu erklärende Furcht vor dem Gespräch mit einem Mann, mit dem sie acht Jahre lang unter einem Dach gelebt hatte, wurde größer und größer. Schließlich fasste sie sich ein Herz und nahm ab. Eine einschmeichelnde Männerstimme meldete sich. Der Anruf kam vom Fernsehen, von einer Werbeagentur namens »Ost-West«. Aurora verstand zunächst gar nicht, was man von ihr wollte – Proben? Was für Proben? Schließlich stellte sich heraus, dass es um die Probeaufnahmen eines Werbespots für ein neues Deodorant ging.
    Aurora willigte ein. Das Geld lag nicht auf der Straße. Werbung für ein Mittel gegen Achselschweiß, na und, warum nicht. . . Was Schweiß ist, das wusste sie nur zu gut. Bei Live-Konzerten war sie manchmal zwischen den Nummern rasch in ihre Garderobe gehuscht. Alles, was sie trug, war so durchgeschwitzt, dass man es hätte auswringen können – Jeans, T-Shirt, Unterwäsche. Sie hatte immer mehrere völlig identische Bühnenkostüme dabei, damit sie zwischendurch in etwas Trockenes schlüpfen konnte. In den Konzertsälen gab es starke Klimaanlagen, und in den Stadien und auf den offenen Bühnen in der Provinz war es gewöhnlich derart zugig, dass man sich im Nu erkältet hatte. Man wurde heiser, die Stimme war weg, und das war’s dann. Es kam auch vor, dass es zwischen den Liedern keine Pausen gab, das Programm in einem Stück durchgespielt wurde. Der Schweiß lief einem in die Augen – es war ein Wunder, dass die Schminke das aushielt. . .
    Was wissen die schon davon, dachte Aurora melancholisch, diese Leute, die angerufen haben? Oder wussten sie es vielleicht sogar sehr gut und hatten deshalb gerade ihr diesen Werbespot angeboten? Möglicherweise hatten sie auch einfach gehört, dass sie dringend Geld brauchte und nichts ablehnen würde, nicht einmal Fotos ihrer nackten Achselhöhlen?
    Gegen Abend rief Maria Potechina an. Sie hatte sich mittlerweile etwas beruhigt, sagte, sie hoffe, dass alles wieder ins Lot komme, sie wollten den Weg durch die Instanzen gehen und das »Al-Maghrib« mit allen Mitteln verteidigen, und dann würde vielleicht alles wieder so sein wie zuvor.
    »Ich hab dich gestern bestimmt zu Tode erschreckt, bitte verzeih mir«, sagte

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