Das zarte Gift des Morgens
leuchteten. »Danke, Nikolai Fomitsch«, sagte sie zu dem Fahrer, »dass Sie mich auch diesmal nicht fallen gelassen haben.«
Der Fahrer grinste und hob den Daumen.
»Der Alte ist richtig verknallt in dich«, flüsterte Katja ihr zu. »Er sagt, für dich ginge er bis ans Ende der Welt. Und am liebsten würde er dich mit seinem Sohn verkuppeln. Der Sohn ist übrigens bei der Marine.«
Anfissa nuschelte etwas Unverständliches, während sie die Kameras wieder in ihren Hüllen verstaute. Offensichtlich war sie in bester Laune. Der Rettungswagen rollte von dannen und ließ sie auf dem leeren, stillen Dobrynin-Platz zurück.
»Ich muss unbedingt etwas essen, sonst sterbe ich«, erklärte Anfissa. »Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und Fotos entwickelt. Komm, wir essen eine Kleinigkeit.« Sie nickte zu »McDonald’s« hinüber. »Die haben rund um die Uhr geöffnet. Warum lächelst du?«
»Einfach so.« Katja seufzte träumerisch. »Was für ein Morgen! Das war eine prima Idee von dir, mich hierher zu bestellen. Wie still es ist. Alle schlafen. Diese Dummköpfe! Komm, wir schreien ganz laut und wecken alle auf, ja?«
»Ich fotografiere oft am frühen Morgen, besonders im Sommer . . . Einen Hunger hab ich! Wie wär’s mit einem Kaffee und dazu Cheeseburger mit Sauce und Kartoffeln . . .«
»Ich esse morgens nie Kartoffeln.«
»Ach, sei keine Spielverderberin.« Anfissa legte Katja den Arm um die Schultern und zog sie zu dem nimmermüden »McDonald’s« hinüber. »Wie war es denn gestern bei der Beerdigung?«
»Ganz normal. Kummer, Tränen. Dein Kumpel Mochow war auch da, und der Koch Saiko. Und dann noch der, von dem du mir erzählt hast – Serafim Simonow. Ein merkwürdiger Typ. Hat sich sehr sonderbar benommen. Sag mal, ist es wirklich wahr, dass er und Jelena . . . dass er damals um sie gewettet hat?«
»Glaubst du, ich lüge dich an?« Anfissa schob gekränkt die Unterlippe vor. »Guck mal an, Simonow . . . Er hat also doch so etwas wie ein Gewissen. Jelena hat ja ein Kind erwartet. Höchstwahrscheinlich von ihm.«
»Meinst du? Ich habe gehört, dass auch Saiko ein Auge auf sie geworfen hatte.«
»Davon habe ich nie etwas gemerkt«, brummte Anfissa. »Ziemlich unwahrscheinlich . . . Du sagst, Pjotr Mochow war auch da?«
»Ja. Wieso, wundert dich das? Er kannte doch ihren Bruder und ihre Familie.«
»Ich wundere mich in der letzten Zeit ständig über ihn«, sagte Anfissa. »Er hat sich sehr verändert, benimmt sich merkwürdig. Gestern Abend hat er mich übrigens noch angerufen. Betrunken. Er betrinkt sich sonst eigentlich selten, weil er immer sehr auf seine Gesundheit achtet. Und jetzt auf einmal. Ich hab kaum was von dem verstanden, was er gefaselt hat. Offenbar hatte er sich bei der Beerdigung ganz schön einen angetütert.«
»Wollte er etwas Bestimmtes von dir?«
»Aber nein, er wollte gar nichts. Hat sich nur bei mir ausgeweint und gejammert, wie grausam, gemein und ungerecht das Leben ist.«
»Ungerecht, zu wem? Zu ihm?«, fragte Katja.
»Das hab ich nicht kapiert. Wahrscheinlich allgemein, zu allen. Petja denkt immer in globalen Maßstäben.«
»Merkwürdig, dass er Restaurantkritiker geworden ist. Seine Eltern sind doch Wissenschaftler. Sein Vater ist Professor.«
»Aha, ihr habt also schon Erkundigungen eingezogen«, brummte Anfissa.
»Das haben wir«, bestätigte Katja.
»Weißt du noch, ich habe dich früher immer gefragt: Wie findet ihr eigentlich diese Mörder? Was war ich doch für ein Schaf!« Anfissa lachte laut auf. »So was nennt man wohl keine schlafenden Hunde wecken . . .« Sie gingen durch die Glastür von »McDonald’s«. »Na, wie steht’s mit den Kartoffeln?«
»Von mir aus, schließlich will ich keine Spielverderberin sein«, meinte Katja. »Sag mal, du weißt nicht zufällig, ob Mochow ab und zu seinen Vater im Labor besucht?«
»Das tut er, sogar sehr oft. Ich war auch schon einige Male dort. Das Observatorium vermietet nämlich Räume. Ein Teil der Büroräume der Redaktion von ›Freizeit und Erholung‹ befindet sich dort und auch Büros anderer Zeitschriften. Ein Fotostudio gibt es auch.«
»Und wie ist das, wird dieses Observatorium nicht bewacht, braucht man keinen Passierschein?«
»Doch, den braucht man. Warum fragst du?«
»Es interessiert mich einfach.«
Anfissa lächelte und zog sie zur Theke, über der eine knallbunte Werbetafel mit dem Tagesmenü leuchtete.
Um halb zehn war die Frühschicht des »Al-Maghrib« vollzählig zur Arbeit
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