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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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einem ausfahrbaren Korb und der Aufschrift »Mosgorenergo«6 auf der Seite.
    »Du kommst mit Blaulicht, und ich komme mit Blaulicht«, erklärte Anfissa und kletterte aus der Fahrerkabine. »Ist doch toll! Schön, dass du pünktlich bist. Es ist schon fast alles fertig. Sieh mal, was für eine Kulisse.«
    Katja legte den Kopf in den Nacken: Direkt vor ihnen ragte ein großes graues Haus in den Himmel. Solche Häuser, die aussehen wie riesige, sich aufbäumende Bügeleisen, hatte man in Moskau in den dreißiger Jahren gebaut. Auf der fensterlosen Seite des Hauses, die auf den Dobrynin-Platz ging, klebte ein gigantisches Werbeplakat für das Musical »42nd Street«.
    Anfissa fasste Katja bei der Hand und zog sie zu dem Lastwagen. Vor ihrer Brust baumelten zwei Fotokameras mit weit vorstehenden Objektiven, aus den Taschen ihrer Weste schauten Akkus, zusätzliche Kassetten, Birnen, Schachteln und Kabel heraus.
    »Gleich geht die Sonne auf«, rief Anfissa, »dann fangen wir an. Sieh mal, dort drüben sind sie schon am Werk.«
    Ein weiterer Lastwagen war vor dem Haus vorgefahren: gelbweiß und ebenfalls mit einer Hebebühne. Zwei Arbeiter kletterten hinauf und fuhren wie in einem Lift langsam nach oben. Etwa auf der Höhe des fünften Stocks hielt die Hebebühne an, und die Arbeiter begannen langsam und vorsichtig, Stück für Stück, das Werbeplakat abzunehmen.
    Anfissa beobachtete sie gespannt, gleichzeitig überprüfte sie hastig ihre Geräte und stellte sie ein. Hinter der »42nd Street« tauchte ein Stück braune, abgeblätterte Wand auf, dann etwas Weißes – ein gigantischer Arm, Buchstaben.
    »So ist es schon besser.« Anfissa kletterte wieder in die Kabine und redete temperamentvoll auf den Fahrer ein. Das Rettungsfahrzeug setzte sich in Bewegung, fuhr auf den leeren Gartenring und blieb mitten auf dem Dobrynin-Platz stehen. Anfissa sprang aus der Kabine heraus, kletterte mithilfe des Fahrers zuerst auf die Ladefläche und stieg von dort über den gelben Rand des Korbes. Trotz ihrer Körperfülle bewegte sie sich sehr flink. Knirschend und pfeifend schwebte der vorsintflutlich aussehende Korb mit Anfissa an Bord nach oben, den Strahlen der aufgehenden Sonne entgegen.
    Katja lehnte sich an einen Laternenpfahl – sie war sprachlos. Das alte Bügeleisenhaus veränderte sich vor ihren Augen: Die schwarzgoldenen Teilstücke des Musicalplakates wurden von den Arbeitern an Seilen nach unten gelassen, auf die Ladefläche des LKWs, und darunter wurde die braunrote, stellenweise stark abblätternde Wandfarbe sichtbar. Unter der Broadway-Reklame erschien gleich einer archaischen Höhlenmalerei eine proletarische Losung: Wir . . . bauen . . . Kommuni. . .
    Magnesiumblitze flammten auf: Anfissa knipste von ihrem luftigen Platz aus wie wild. Katja rannte über den verwaisten Platz (kein einziges Auto, alle Ampeln grün) auf den Rettungswagen zu. Anfissa hatte sich weit über den Rand des Korbes gelehnt, um die richtige Perspektive zu finden, aus der sie das von der purpurrot aufgehenden Sonne beschienene seltsame Plakat auf der alten Mauer fotografieren konnte: muskulöse Arbeiterhände, die sich über den in wildem Tanz geschwungenen schlanken Beinen des Broadway-Musicals zum Proletariergruß reckten, ein neu zusammengefügter Slogan, in dem die Worte »42nd Street« und »Kommunismus« auf rührende Weise nebeneinander standen.
    »Anfissa, vorsichtig, fall nicht raus, halt dich gut fest!«, rief Katja lachend.
    »Tu ich ja!«, schrie Anfissa zurück. »Na, Katja, ist das nicht einsame Spitze?«
    »Das Mädel hat Feuer unterm Hintern«, sagte der Fahrer des Rettungswagens, ein älterer Mann im Overall von »Mosgorenergo« zu Katja. »Ich bin mit ihr jetzt schon das dritte Mal unterwegs. Sie hat überhaupt keine Höhenangst, vor rein gar nichts hat sie Angst. So eine resolute Frau hätte sich mein Sohn nehmen sollen statt dieser Schlampe, die bloß eine Abtreibung nach der anderen macht und geschlagene drei Stunden am Telefon quasselt.«
    »Was macht denn Ihr Sohn?«, erkundigte sich Katja.
    »Er ist bei der Armee. Marine.« Der Fahrer seufzte. »Ein Klasseweib . . . Für die würde ich bis ans Ende der Welt gehen. Und eine Figur, da ist alles dran.«
    Der Korb mit Anfissa schwebte nach unten.
    »Alle Achtung«, sagte Katja, als die Freundin wieder auf festem Boden stand.
    »Ich warte schon seit langem auf den Tag, an dem das Plakat heruntergenommen wird. War doch lustig, nicht wahr?« Anfissa schnaufte, ihre Augen

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