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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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Zittern zu unterdrücken und sich zu zwingen, wieder zu den anderen zurückzukehren. Was war geschehen? Was war so schmerzlich, so widerwärtig gewesen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern mochte?
    Sie steht vor dem Waschbecken und schaut auf das Wasser, das aus dem Kran fließt. Die Tür öffnet sich, Studnjow kommt herein. Er nähert sich ihr. Seine Hände legen sich auf ihre Schultern. Er umarmt sie, sie spürt seinen Atem, hört sein Flüstern: »Hier versteckst du dich also . . . Wie schön du heute Abend bist. Ich habe immer nur dich angesehen, die ganze Zeit, ich konnte mich gar nicht satt sehen . . . Natascha, ich kann ohne dich nicht leben . . .«
    Seine Hände pressen, streicheln, liebkosen ihren Körper, sie ziehen den Reißverschluss ihres Kleides auf. Seine Lippen saugen sich an ihren nackten Schultern fest. Er versucht, die schmalen Träger ihres Abendkleides herunterzuschieben und ihre Brust zu entblößen. Sie spürt, wie er den Reißverschluss seiner Hose öffnet, sich an sie presst, etwas Unverständliches murmelt. Dann hebt er sie hoch, versucht, sie auf das kalte marmorne Waschbecken zu setzen. Sie versteht nicht, was er sagt, hört nur den schon halb vergessenen Namen »Natascha« . . . Schweigend stößt sie seine Hände weg, aber er drückt sie immer fester an sich. Seine Stimme . . . Ihr scheint, als höre sie diese Stimme zum ersten Mal, sie erkennt sie kaum wieder, so wie vor wenigen Augenblicken die Stimme ihres Mannes: »Was hast du denn, was ist los? Nun halt doch still, wir werden es schön haben, so wie es früher immer war . . . Was machst du denn, warum stößt du mich weg, du Biest!«
    Ihr bleibt die Luft weg, sie tastet nach dem Handy auf dem Waschbecken und schlägt damit Studnjow auf den Kopf. Nicht besonders fest. Es tut bestimmt nicht weh. Aber er lässt sie sofort los. Er atmet schwer. Sie sieht, ihm ist übel. Nicht zufällig hat man sie eben beim Verhör danach gefragt – ob ihm schlecht war. Ob er sich bei ihr beklagt habe. Nein, beklagt hat er sich nicht. Aber sie hat es mit eigenen Augen gesehen.
    Aurora schaut zum Autofenster hinaus, dreht den Kopf zur Seite, damit der Fahrer ihre Tränen nicht sieht. Eigentlich hat sie gar keinen Grund zu weinen – aber die Tränen wollen nicht aufhören zu fließen.

20
    Während Katja noch vor ihrem einsamen Abendessen saß und dazu der Fernseher lärmte (es lief gerade »Krieg und Frieden«), rief Anfissa Berg an.
    »Wo warst du?«, fragte sie. »Ich suche dich schon den ganzen Tag.«
    »Ich war auf dem Friedhof«, antwortete Katja und verfolgte gespannt das Geschehen auf dem Bildschirm, wo dem verwundeten Fürsten Bolkonski gerade in einem Nebelschleier Napoleon erschien und um das Schlachtfeld ritt. »Jelena Worobjowa ist heute beerdigt worden.«
    »Ich musste auch die ganze Zeit an sie denken«, gestand Anfissa. »Sag mal, hättest du Lust, dich noch mal mit mir zu treffen?«
    »Aber sicher«, sagte Katja.
    »Ich arbeite morgen im Freien. Kennst du den Dobrynin-Platz?«
    »Natürlich.«
    »Dann schlage ich vor, wir treffen uns dort, gegenüber von ›McDonald’s‹. Du hast doch gesagt, du würdest mir gern mal bei der Arbeit zuschauen?«
    »Um wie viel Uhr?«, fragte Katja munter. Im Fernsehen war inzwischen der Duellant und Streithahn Dolochow zu sehen, wie er dreist und gierig die Damen in den Theaterlogen musterte.
    »Ich brauche ganz bestimmte Lichtverhältnisse. Treffen wir uns morgen früh um fünf. Oder ist dir das zu früh?«
    »N-nein, warum denn.« Katjas Stimme klang nicht recht überzeugt.
    »Hast du mich noch immer im Verdacht, Studnjow ermordet zu haben?«
    »Ich denke oft an dich, Anfissa.«
    »Na schön.« Anfissa Berg seufzte. »Dann bis morgen. Verschlaf aber nicht.«
    Katja beschloss, sich keine Gedanken mehr zu machen und sich ganz dem Geschehen auf dem Bildschirm zu überlassen. So ein alter Film war die beste Ablenkung an einem einsamen Samstagsommerabend: Pferde, Fahnen, Tschakos, Epauletten, Kanonenkugeln, Geschützlafetten, Kerzen, Spielkarten auf grünem Tuch, Zobelpelze.
    Am Sonntagmorgen hatte sie großes Glück: Auf dem verschlafenen Uferkai kam ihr um fünf Uhr früh ein Streifenwagen der Miliz entgegen. Sie hielt die Kollegen an, zeigte ihnen ihren Dienstausweis, erzählte ihnen irgendein Märchen, und die gutgläubigen Streifenpolizisten brachten sie großmütig zu ihrem Treffpunkt.
    Anfissa saß zu Katjas Verblüffung in der Kabine eines Rettungsfahrzeugs, eines großen gelben Lastwagens mit

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