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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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Das waren Worobjows erste Worte, als er das Büro betrat, in dem Kolossow, Lessopowalow und die FSB-Männer bereits auf ihn warteten.
    »Ja, wir müssen mit Ihnen reden, Juri«, sagte Kolossow und stellte sich vor.
    Worobjows Gesicht wurde lang, nervöse Spannung malte sich in seinen Zügen. Er war seiner Schwester tatsächlich sehr ähnlich. Aber was an Jelena anziehend, sogar schön gewirkt hatte, verwandelte sich bei ihrem Bruder in eine Art fade, konturlose Disharmonie: der allzu grazile Körperbau, der lange Hals, der an ein Huhn erinnerte, die für einen Mann allzu weiße, zarte Haut. Worobjows Augen waren grau, groß und trübe wie Glimmer, sein Kinn feminin und weich. Im Gespräch leckte er sich häufig über die ausgetrockneten Lippen, was Kolossow derart nervte, dass er den Burschen kaum noch ansehen mochte.
    »Wir wollen mit Ihnen über den Mord an Ihrer Schwester sprechen«, fiel Konstantin Lessopowalow gleich mit der Tür ins Haus. »Waren Sie schon in der Generalstaatsanwaltschaft beim Untersuchungsführer?«
    »Ich? Nein«, erwiderte Worobjow.
    »Setzen Sie sich doch, Juri.« Kolossow wies auf einen Stuhl. »Unser Gespräch wird vermutlich länger dauern.«
    Schon auf dem Weg zum »Saturn« waren Kolossow und Lessopowalow übereingekommen, das Rad nicht neu zu erfinden, sondern das Verhör nach der erprobten und sehr wirksamen Methode »guter Polizist« – »böser Polizist« durchzuführen. Die Anwesenheit der Männer in Grau störte sie dabei nicht. Die Kollegen vom FSB waren vorläufig noch schweigsam wie Schatten.
    »Man hat Sie also noch nicht zur Staatsanwaltschaft bestellt. Das kommt noch«, äußerte Lessopowalow drohend. »Sind Sie über die Todesumstände Ihrer Schwester unterrichtet?«
    Worobjow nickte unsicher und nervös.
    ›Jelena Worobjowa wurde vorsätzlich vergiftet. Hat man Ihnen die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung mitgeteilt?«
    Worobjow schüttelte den Kopf.
    »Dann wird man es bald tun. Vorläufig werden Sie noch als der gesetzliche Vertreter der Verstorbenen informiert«, verkündete Lessopowalow noch drohender. Kolossow wurde freilich den Eindruck nicht los, dass Worobjow die Bedeutung dieser unklaren Drohung gar nicht begriff.
    »Juri, haben Sie Ihre Schwester geliebt?«, fragte er Worobjow.
    Der nickte krampfhaft: Ja, ja!
    »Dann ist es Ihnen sicher nicht gleichgültig, ob ihr Mörder gefunden und bestraft wird, habe ich Recht?« Kolossows Stimme klang ganz freundlich.
    Erneutes lebhaftes Nicken – nein, das war Worobjow keineswegs gleichgültig.
    »Wissen Sie, mit was für einem Gift Ihre Schwester getötet wurde?«
    Stopp. Jetzt wurde es interessant. Worobjow starrte ihn erschrocken an. Seine Lippen zitterten.
    »Ist Ihnen ein Präparat namens Thalliumsulfat bekannt?«, fragte Lessopowalow.
    Ruckartiges Nicken.
    »Ich höre keine Antwort.« Lessopowalow erhob seine Stimme.
    ›Ja, es ist mir bekannt.«
    »Lesen Sie bitte das chemisch-biologische Gutachten. Besonders Punkt vier – die Ursache für den Tod Ihrer Schwester.« Lessopowalow reichte Worobjow das Gutachten.
    Während der junge Mann las, warteten sie schweigend und geduldig. Im Zimmer war es still wie in einer Gruft: die Bildschirme der Monitore dunkel und blind, die Telefone und das Fax stumm. Die Jalousien vor den Fenstern waren heruntergelassen. Worobjow gab das Gutachten zurück, ohne den Kopf zu heben. Nikita nickte Lessopowalow zu – los, mach ihm Druck.
    »Ihre Schwester wurde mit Thalliumsulfat vergiftet. Drei Tage vorher wurde in dem Restaurant, in dem sie arbeitete, ein gewisser Studnjow mit dem gleichen Gift getötet. Können Sie persönlich, Juri«, Lessopowalow redete Worobjow zum ersten Mal mit Vornamen an, »uns dazu etwas als Zeuge sagen?«
    »Ich? Ich . . . Nein, warum fragen Sie mich?« Worobjows Stimme klang plötzlich brüchig. »Ich kenne gar keinen Studnjow.«
    »Haben Sie hier bei Ihrer Arbeit Zugang zu Thalliumsulfat?« Zum ersten Mal stellte einer der schweigsamen FSB-Männer eine Frage.
    »Ja, wir benutzen dieses Präparat. Nicht nur ich, auch andere.« Worobjow schaute flehend Kolossow an, und der reagierte sofort.
    »Sehen Sie, Juri«, sagte er, »Sie sind doch ein erwachsener Mann, Sie müssen sich darüber klar sein, worum es hier geht -um nichts weniger als den Mord an zwei Menschen.«
    »Aber ich habe doch nichts . . .«
    »Besser, du gibst sofort alles zu, Junge«, sagte Lessopowalow gewichtig, jedes Wort so betonend, als treibe er einen Nagel in ein Brett.

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