Das Zauberer Handbuch
Geschichte liefert – die Frage, ob sie tatsächlich so funktionieren würde, stellt sich erst gar nicht. Wenn eurer Weltenschöpfung eine eigene, subjektive Logik innewohnt, dann genügt das gemeinhin – Dinge, die sich sinnvoll aus der Handlung heraus entwickeln, die ihren Fortgang unterstützen und zur Atmosphäre beitragen, wird der Leser stets weniger hinterfragen als solche, die womöglich wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeitskriterien standhalten, jedoch keinen Bezug zur erzählten Geschichte haben.
In DER HERR DER RINGE flankieren die Schauplätze Mittelerdes die Handlung so, dass sie ein integraler Bestandteil werden: Das Auenland mit grünen Hügeln und gemütlichen Behausungen ist der Inbegriff des friedlichen Idylls, von dem aus die Hobbits zu ihrer großen Reise aufbrechen; die Menschenstadt Bree steht für die Unsicherheit, die Frodo und seine Freunde befällt, nachdem sie ihre Heimat verlassen haben; Bruchtal (man beachte den Namen!) befindet sich nicht von ungefähr jenseits der Bruinenfurt auf der anderen Seite des Flusses, denn es steht für das Überschreiten einer Grenze, für den Aufbruch in eine andere Welt und Zeit; und im dunklen Wald von Fangorn manifestieren die Ängste der Hobbits sich als riesige, bedrohliche Bäume, die schließlich sogar zum Leben erwachen.
Überhaupt kommt dem Wald in den Sagen und damit auch in der Fantasy eine große Bedeutung zu – vergessen wir nicht, dass zu der Zeit, da unsere Mythen entstanden sind, große Teile dieser Welt von üppiger Vegetation bedeckt waren. Der Wald als etwas Dunkles, Unergründliches und daher Bedrohliches, aber auch als Hort des Lebens, hat die Phantasie der Menschen von jeher beflügelt – vom Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf bis hin zu den Dschungelgeschichten von TARZAN-Erfinder Edgar Rice Burroughs. In all diesen Geschichten wird der Wald zum Schauplatz der Prüfungen, die der Held erlebt, und übernimmt fast selbst so etwas wie eine Rolle in der Geschichte. Mehr als in jedem anderen Genre spiegeln in der Fantasy die Schauplätze der Abenteuer das Seelenleben der Helden wider. Das hängt mit den Wurzeln der Fantasy in den Mythen zusammen, die ihre Ursprünge, wie Jung festgestellt hat, in Träumen haben, in kollektiven Vorstellungen der Menschheit. Dies ist die innere Logik, der unser Weltenentwurf vor allem folgen sollte, und sie ist zumindest auf unser Genre bezogen wichtiger als die äußere, (pseudo-)wissenschaftlich erklärbare Logik anderer Genres.
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Helden und Schurken
Da wir nun die Handlung unseres Romans erarbeitet und festgelegt haben, welche Figuren darin vorkommen, wird es an der Zeit, diese mit »Fleisch« auszustatten, wie es so schön heißt. Die sechs vorgestellten Typen sind bislang vor allem Rollen, die innerhalb einer Geschichte funktionieren. Erst, indem wir ihnen ein Herz geben, sie mit menschlichen (oder nichtmenschlichen) Eigenschaften ausstatten und ihre Motive für den Leser nachvollziehbar machen, werden sie zu tatsächlichen Romanfiguren.
Von der Figur zum Charakter
An dieser Stelle müssen wir uns natürlich die Frage stellen, was einen an sich fiktiven Charakter für den Leser glaubhaft und zu einem Wesen aus Fleisch und Blut werden lässt. Die Weltliteratur ist voller Beispiele von Figuren, die beim Leser einen tiefen Eindruck hinterlassen – Long John Silver aus R.L. Stevensons DIE SCHATZINSEL beispielsweise gehört für mich zu den besonders eindrucksvollen Gestalten der Unterhaltungsliteratur; aber auch von solchen, die einen eher kalt und unberührt lassen. Was die einen von den anderen unterscheidet, sind Glaubwürdigkeit und charakterliche Tiefe. Um im Bild zu bleiben: Stellen wir uns die bislang vorgestellten Archetypen der Fantasy als eine Zeichnung vor, die die Figuren zwar in allen Funktionen abbildet, jedoch noch zweidimensional gehalten ist. Nun geht es darum, die dritte Dimension hinzuzufügen, sodass die Figur zum Identifikationspol, zum Charakter wird.
Man erreicht dies, indem man dem Leser Informationen über eine Figur gibt, ihn an ihrer Vergangenheit teilhaben lässt, an ihren Gefühlen, ihren Plänen und Hoffnungen. Und je nachvollziehbarer all diese Dinge für den Leser sind – womöglich entdeckt er sogar die eine oder andere Gemeinsamkeit zwischen sich und dem Helden –, desto eher wird er bereit sein, sich mit der Figur zu identifizieren.
Der erste Auftritt
Ein amerikanisches Sprichwort lautet There ’ s no second chance to make a first
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