Das Zauberer Handbuch
Vorteil, ohne Probleme von der Außensicht in die Innensicht wechseln zu können – wo ein Film also nur das Handeln der Figuren und ihre äußerlichen Reaktionen zeigen kann und darauf vertrauen muss, dass der Zuschauer die entsprechenden Rückschlüsse auf sein Denken zieht, können wir beides gleichermaßen beschreiben.
Beim Aussehen hingegen sind wir im Nachteil. Wir sind auf Beschreibungen angewiesen, wo ein Film mit einer einzigen Einstellung alles klarmachen kann – nicht von ungefähr behauptet der Volksmund, dass ein Bild mehr als tausend Worte sage. Dennoch ist es für den Leser natürlich wichtig zu wissen, wie eine Figur aussieht, andernfalls wird er sie sich vor seinem geistigen Auge, im »Kopfkino«, nicht richtig vorstellen können. Jedem, der einen Roman schreibt, muss allerdings klar sein: Endgültige Bilder liefert nur ein Film. Wie detailliert auch immer wir unsere Figuren beschreiben, wie akribisch wir auch bei der Recherche ihre Kleidung oder Rüstung betreffend gewesen sein mögen – jeder einzelne unserer Leser wird sich unter dem, was wir schreiben, etwas anderes vorstellen. Diese Limitierung müssen wir als Autoren akzeptieren, zugleich ist sie auch eines der großen, wunderbaren Mysterien des Lesens. Der Gedanke, dass etwas, das wir zu Papier bringen, in den Köpfen der Leser in Hunderten oder gar Tausenden verschiedener Versionen neu entsteht, birgt etwas wahrhaft Faszinierendes.
Aussehen
Natürlich will der Leser wissen, wie eine Figur aussieht – dennoch sollten wir es mit dem bloßen Beschreiben nicht übertreiben. Obwohl ich als Kind Bücher förmlich verschlungen habe, gab ich die Lektüre meines ersten Karl May-Romans – es war WINNETOU I – seinerzeit auf, weil ich die ausufernden Beschreibungen der teils recht kauzigen Charaktere ganz einfach ermüdend und langweilig fand. Das war 1979, in einer Zeit also, die noch längst nicht so geprägt war von audiovisuellen Medien. Eine vergangene Ära, in der das Internet und Echtzeit-Computerspiele noch ferne Zukunftsmusik waren. Wir dürfen davon ausgehen, dass die Leserschaft heutiger Tage nicht unbedingt geduldiger geworden ist – und das betrifft keineswegs nur Kinder oder Jugendliche. Wir alle, die wir im modernen Medienzeitalter leben, sind von dessen viel beschworener Schnelllebigkeit geprägt. Zeitgemäß zu schreiben und zu erzählen, bedeutet also auch, es auf eine Weise zu tun, die an die vorhandenen Gewohnheiten der Leser »andockt«.
Anders als Karl May, der gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts noch genau beschreiben musste, wie ein Indianer vom Stamm der Apachen aussieht oder wie sich der Leser einen echten »Westmann« vorzustellen hat, können wir heute auf ein breites kollektives Wissen bauen, das wir bei unseren Lesern voraussetzen dürfen. Dies hängt – gerade in der High Fantasy – natürlich wieder mit den durch Romane, Filme und Spiele eingebürgerten Archetypen zusammen. Wer heute Wörter wie »Ork« oder »Waldläufer« liest, bei dem stellen sich fast reflexhaft Bilder von grünhäutigen Unholden und schweigsamen, an Robin Hood erinnernden Naturburschen ein, ohne dass der Autor auch nur eine einzige nähere Angabe machen muss. Häufig ist es eher so, dass wir das erwähnen müssen, was über die »gewöhnliche« Ausstattung einer typischen Figur hinausgeht oder signifikant davon abweicht. Was die Beschreibung selbst angeht, muss es nicht immer der berühmte Schwenk über den Körper sein, der das Aussehen einer Figur schildert:
Granock trat aus dem Halbdunkel. Sein Ordensgewand, das ihm stets treue Dienste geleistet hatte, hatte er gegen eine wollene Tunika getauscht, über der er ein leichtes Kettenhemd trug. Seine Beine steckten in wildledernen Stiefeln, die ihm bis zu den Knien reichten, auf der Hüfte lastete der Waffengurt mit dem Schwert. Auf Brünne und Helm hatte er verzichtet, sodass Hals und Kopf weitgehend ungeschützt waren. Dafür hielt der Zauberer seinen Zauberstab umklammert, dem er größere Bedeutung beimaß als jeder Rüstung …
Man kann solche Informationen ebenso gut in eine Aktionshandlung packen, was die Sache gleich interessanter macht, zumal man hier auch Motivationen und Gedanken der handelnden Figur unterbringen kann:
Nach kurzem Zögern legte Granock das Ordensgewand ab, das ihm stets treue Dienste geleistet hatte, und streifte die wollene Tunika über, die der Diener ihm reichte. Darüber zog er das leichte Kettenhemd, das man für ihn bereitgelegt
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